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Anmerkungen zur jüngsten Unrechtsstaat-Debatte

Verlautbarungen aus den Koalitionsverhandlungen in Thüringen haben eine erneute kontroverse Diskussion zum Begriff des "Unrechtsstaates" ausgelöst. Das Mitglied der Historischen Kommission Günter Benser verweist auf die Probleme einer solch verkürzten Sicht auf die Geschichte der DDR. Der Sprecherrat veröffentlicht nachfolgend seinen Beitrag zur Diskussion:

Es wird nicht in Frage gestellt, dass in der DDR Menschen Unrecht angetan wurde (häufiger und stärker als in manchen - allerdings nicht allzu vielen - anderen Staaten). Dies ist klar zu benennen und in berechtigten Fällen ist Wiedergutmachung zu leisten. Das sollte allerdings für alle gelten, denen zu Zeiten des kalten Krieges von Staats wegen erheblicher Schaden zugefügt wurde, sei es in der DDR, sei es in der BRD.

Ungeachtet partieller Differenzen herrscht in der Historischen Kommission Übereinstimmung, dass schon das Eigeninteresse der Linken die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (allerdings von sozialistischer Warte) verlangt.

In der Thüringer Protokollnotiz geht es aber um etwas anderes. Mit ihr sollen juristisch und historisch unhaltbare Behauptungen substanzielle Grundlage einer Koalitionsvereinbarung werden. Dazu sei Folgendes festgestellt:

I. Zum Juristischen

  1. Der "Unrechtsstaat" ist - wie auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages bestätigt hat - ein nicht definierter, weil nicht definierbarer Begriff, welcher der politischen Agitation entstammt. Das Ansinnen, vier Jahrzehnte wechselvoller Geschichte, die durch innere Faktoren und äußere Einwirkung bestimmt wurden, mit drei Silben auf einen Begriff zu bringen, bei dem die sozialökonomischen Verhältnisse ausgeblendet bleiben, sollte von Linken zurückgewiesen werden.
  2. Ausgerechnet der einzige deutsche Staat, der eine allen Haushalten zugestellte, nach eine breiten Diskussion in 55 von 108 Artikeln veränderte oder ergänzte und in einer Volksabstimmung bestätigte Verfassung hat, ist ein Unrechtsstaat. (Es ist nicht bekannt, dass das Abstimmungsergebnis im Nachhinein ernsthaft angezweifelt worden wäre.) Gleichwohl ist die DDR der weltweit einzige Staat, dem permanent das Stigma "Unrechtsstaat" aufgedrückt wird. Mit welchem Attribut ist dann ein Großteil der Mitgliedsstaaten der UNO zu versehen und wie sind diese zu behandeln?
  3. In den gegen DDR-Juristen (Richter und Staatsanwälte) geführten Prozessen sind in der Regel Urteile wegen "Rechtsbeugung" oder "Rechtsüberdehnung" gefällt worden. Wie geht das, wenn es gar kein Recht gibt? In den Prozessen ist immer von der Rechtslage der DDR ausgegangen worden und die Berechtigung der DDR, Recht zu setzen, nie in Zweifel gezogen worden.
  4. Im Text der Protokollnotiz heißt es, die Nicht-System-Konformen hätten jedes Recht und Gerechtigkeit verloren. Durften diese Leute keine rechtskräftigen Verträge abschließen? Durften sie nicht das Zivilgesetzbuch, das Familienrecht, das Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung etc. etc. für sich in Anspruch nehmen? Hatten sie bei Inanspruchnahme von Staatsanwaltschaften oder Gerichten erst den Nachweis zu erbringen, dass sie sich systemkonform verhielten? Das Rechtssystem der DDR war doch mehr als politisches Strafrecht. Ein unvoreingenommener Vergleich beweist, dass es in weiten Bereichen der Gesetzgebung und Rechtspflege der bundesdeutschen Justiz deutlich überlegen war.

II. Zum Historisch-Politischen

  1. Sind Parteien tatsächlich berechtigt, Vereinbarungen zu treffen, wie mit Geschichte umzugehen ist? Und was haben diese für einen Wert, wenn sich Bürger nicht vorschreiben lassen, wie sie über die Vergangenheit zu denken haben?
  2. Es sind keine Koalitionsvereinbarungen oder gemeinsamen Erklärungen bekannt, in denen CDU/CSU oder FDP abverlangt worden wäre, dass sie sich von der Zustimmung ihrer Vorgängerparteien zu Hitlers Ermächtigungsgesetz abgrenzen und sich zu historischer Aufarbeitung verpflichten, obwohl unter der faschistischen Diktatur mit der DDR nicht vergleichbares Unrecht geschehen ist. Auch die Sünden der deutschen Sozialdemokratie sind nie in entsprechenden zwischenparteilichen Dokumenten thematisiert worden.
  3. Die Initiatoren der kritikwürdigen Formulierungen wissen zweifellos, dass unter ihren potentiellen linken Koalitionspartner, wie auch unter den Entscheidungsträgern der Linkspartei insgesamt, niemand ist, der das Rechtssystem der DDR oder gar dessen repressive Seiten wieder herstellen möchte. Sie könnten auch wissen, dass nirgendwo so intensiv über die eigene Geschichte debattiert und publiziert wird, wie im Umfeld der Linken. Warum werden dennoch dem mit Abstand größten potentiellen Koalitionspartner solche Demutsgesten abverlangt? Es ist doch absehbar, dass solche Formulierungen zwangsläufig einen Keil in die Mitgliedschaft und die Wählerschaft der Linken treiben. Somit ist es wohl nicht ganz abwegig anzunehmen, dass eben dies bezweckt wird, um aus dem eigenen Wählertief herauszukommen.