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Tages der Erinnerung und Mahnung

Ansprache von Ludwig Elm am Gedenkstein am Heinrichsberg in Jena

Bei unserem Treffen aus gleichem Anlass vor einem Jahr ging es insbesondere um die bevorstehende 80. Wiederkehr der Ereignisse von 1932/33; die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Bundestag (Dezember 2010) und die Antwort der Bundesregierung (Dezember 2011) zu "Umgang mit der NS-Vergangenheit" ab 1949 sowie die Verbrechen des rechtsterroristischen NSU, die jahrelangen skandalösen Begleiterscheinungen bei Verfassungsschutz, Behörden und Politikern und die Gründe dieses Versagens. Die Erfahrungen des letzten Jahres zu diesen Schwerpunkten sollten nicht übergangen werden, da sie uns auf dringliche Schlussfolgerungen verweisen. Was ist davon heute und morgen für uns wichtig?

Rückblicke - 80 Jahre danach: Wie steht es um die Aufklärung des Scheiterns der Republik 1932/33?

Es gab wiederum zahlreiche Veröffentlichungen, Filme, Konferenzen, Dokumentationen u. a. Die VVN-BdA e. V. führte am 28. und 29. Juni 2013 in Berlin eine Tagung durch: "Lizenz zum Terror. Das Jahr 1933. Vorgeschichte, Geschichte und Geschichtsbild". Mein Referat widmete sich der damaligen Rolle der bürgerlichen Parteien, wozu wieder einmal in Politik und Medien wenig, gar zu wenig, zu erfahren war.

Es ist festzustellen: Andauernde fundamentale Entstellungen und Defizite bestimmen die Geschichtsschreibung zum Ende der Weimarer Republik und zur Errichtung der faschistischen Diktatur. Das gilt vor allem für die vorherrschende Darstellung, dass die Extreme von rechts und links die Demokratie geschwächt und schließlich zerstört hätten. Im eigenen Beitrag wurde das am Text-Beispiel des Geschichtsbuches der 9. Klasse in Berlin vorgeführt: Von Anbeginn sei die Republik durch Umtriebe von rechts und links bedroht gewesen. Schließlich habe es ab Juli 1932 im Reichstag eine "negative Mehrheit" von Nazis und Kommunisten gegeben. Tendenziell ähnliche Aussagen finden sich im diesjährigen Band zur Jugendweihe in Ostthüringen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 30. Januar 2013 wurde behauptet, "dass KPD und NSDAP die maßgeblichen politischen Kräfte waren, die den Untergang der Weimarer Republik zu verantworten hatten." In der Wochenzeitung Das Parlament war in Nr. 32/33 vom 5. August 2013 zu lesen, dass nach der Wahl im Juli 1932 "mit NSDAP und KPD erklärte Republikfeinde zusammen die Mehrheit im Reichstag" stellten. Linke Kapitalismuskritik wird mit der gegen sie gerichteten, mit ihr absolut unvereinbaren faschistisch-rassistischen Feindschaft zu Arbeiterbewegung und bürgerlich-parlamentarischer Demokratie absichtsvoll in einen Topf geworfen.

Tatsächlich gab es jedoch in den kurzen Legislaturperioden der drei Reichstage von 1932/33 - wie in den politischen Kämpfen im ganzen Reich - keine Gemeinsamkeit von NSDAP und KPD, sondern genau das Gegenteil: durchgängig eine prinzipielle, unversöhnliche Gegnerschaft. Das unterschied die Linke völlig von den Grauzonen und Übergängen zwischen Deutschnationalismus, völkischem Konservatismus, Antisemitismus, Antimarxismus und Nazismus im bürgerlichen Spektrum. Das historisch, politisch und moralisch unhaltbare antikommunistische Extremismusdogma entstellt die Schuldfragen bezüglich des Scheiterns der Weimarer Republik: Es fälscht und denunziert systematisch die kommunistische Bewegung und weitere linke Kräfte sowie ihre massenhafte Verfolgung und ihren Widerstand, es beleidigt ihre Opfer. Damit wird die spezifische menschenfeindliche Natur des Nazismus und Rassismus relativiert. Vor allem aber dient dieses Konzept dazu, von den verhängnisvollen Fehlentscheidungen der bürgerlich-aristokratischen Oberschichten, ihrer Parteien und Politiker, abzulenken und deren entscheidende Beihilfe zur Errichtung der faschistischen Diktatur zu verdrängen.

Festzustellen bleibt somit nach den jüngsten Erfahrungen, dass die Rolle der Vorläuferparteien von CDU, CSU, FDP - also Zentrum, Bayerische Volkspartei u. a. - weiterhin beschwiegen oder marginalisiert wird. Deshalb habe ich im Berliner Referat Ende Juni die katastrophalen Fehlentscheidungen der "Göring-Mehrheit" im VI., VII. und VIII. Reichstag von August 1932 bis Mai 1933 in elf konkreten Punkten aufgelistet. Dazu gehört die dreimalige Wahl von Göring zum Reichstagspräsidenten gemeinsam von NSDAP und allen bürgerlichen Parteien sowie die Zustimmung sämtlicher bürgerlichen Abgeordneten zum Ermächtigungsgesetz für Hitler am 23. März 1933. Ab Sommer 1932 waren alle bereit, Koalitionen mit den Nazis auch unter einem Kanzler Hitler einzugehen oder hinzunehmen.

Wer erinnert sich an Beiträge dazu in Funk und Fernsehen, in regionalen und überregionalen Print- und Onlinemedien? Ebenso wird die Rolle der Wirtschaft, der Reichswehr, der Justiz und Polizei sowie der Mehrheit der Beamten und der bürgerlichen Intelligenz - also deren steter Weg nach rechts bis rechtsaußen seit Beginn der zwanziger Jahre - verdrängt oder beschönigt. So fehlten beispielsweise in der TV-Dokumentation "Die ersten hundert Tage" (der Hitler-Regierung), gesendet nach dem neuem Spielfilm zum Reichstagsbrand im Februar 2013, die Treffen Hitlers mit der Reichswehrführung sowie mit führenden Vertretern der Industrie, Banken und Wirtschaftsverbände Anfang bzw. Mitte Februar 1933. Die gleichen Lücken wies die TV-Dokumentation über Hindenburg auf (ARTE, 6. August 2013).

Umgang mit der NS-Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik: 2010-12 erstmalig als Hauptthema im Deutschen Bundestag

Die Bundesregierung hatte im Dezember 2011 in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der LINKEN (Dezember 2010) erstmals seit 1949 einschlägige Fakten zur Verdrängung der NS-Geschichte sowie zu den personellen Kontinuitäten vom Dritten Reich zur Bundesrepublik eingestanden. Die dringlichen Fragen nach der damaligen politischen Verantwortung wurden erneut übergangen. Immerhin bestätigten zahlreiche Angaben das Braunbuch der DDR von 1965 - also nach fast einem halben Jahrhundert. Es wurde damals offiziell sowie in den meisten Medien unterdrückt oder verleumdet, aber auch in den folgenden Jahrzehnten weitgehend totgeschwiegen. Zu den nunmehr regierungsoffiziell bestätigten Tatsachen gehören beispielsweise die über Kanzler und Bundesminister, die der NSDAP, SA und SS angehört hatten: Kanzler K.-G. Kiesinger (CDU) war seit 1. Mai 1933 Mitglied der Nazipartei; dieser hatten weiterhin 8 Bundesminister der CDU, 6 der CSU, 6 der FDP und 4 der SPD angehört, darunter 5 seit 1933 (einschließlich des SS-Hauptsturmführers Waldemar Kraft und des SA-Obersturmführers Theodor Oberländer).

Bereits im Oktober 1950 wurde mit Robert Lehr ein früheres Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) - nunmehr CDU - Bundesinnenminister und konnte bei der wiederum flächendeckenden Verfolgung von Kommunisten und Antifaschisten an Erfahrungen aus der Zeit bis zum Eintritt seiner Partei in die Hitlerregierung anknüpfen. Bald besetzten Altnazis wie G. Schröder (CDU), H. Höcherl (CDU), E. Bucher (FDP) und R. Jaeger (CSU) die Ressorts Inneres und Justiz. Diese restaurativen personalpolitischen Haupttendenzen setzten sich folgerichtig in den Landesparlamenten sowie allen nachgeordneten Ministerien und Behörden bis in die Städte und Gemeinden fort.

Am 8. November 2012 fand die Plenardebatte zur Großen Anfrage, zur Antwort der Bundesregierung und weiteren Anträgen statt. Wer hat über diese jetzt unumgänglich gewordenen Eingeständnisse und Tatsachen sowie die parlamentarischen Erörterungen und Beschlüsse Bemerkenswertes in der herrschenden Medienwelt erfahren? Die Regierungsparteien hatten durch geringe Beteiligung an der Plenardebatte sowie mit Hinterbänklern als Redner vorgesorgt, dass die mediale Aufmerksamkeit gegen null ging. Das wurde auch durch inhaltliches Abwiegeln bezüglich ihrer entscheidenden Verantwortung bei der Schlussstrichpolitik ab September 1949 abgesichert. So funktioniert unter der Regie der Rechten Geschichtspolitik in der repräsentativen Demokratie und in der freien Presse. Die entscheidenden Fragen nach den Hauptverantwortlichen und den Auswirkungen blieben offen; einige vordringliche habe ich am Ende meiner Analyse in den Marxistischen Blättern (1/2013) in Erinnerung gerufen.

Am 8. November 2012 stand im Bundestag auch der Antrag der Fraktion DIE LINKE auf der Tagesordnung "Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten gegen das NS-Regime anerkennen" zur Beschlussfassung auf der Tagesordnung. Der Antrag wurde gegen die Stimmen der LINKEN und der Grünen mit den Stimmen der Regierungsfraktionen und der SPD (!) abgelehnt. Die Chance wurde vertan, endlich die in diesem Land vorherrschende politisch und moralisch infame Verdrängung und Herabsetzung des Kampfes, der Leiden und der Opfer der Mitglieder jener Partei und ihrer Anhängerschaft zu beenden. Sie waren die ersten und zunächst vorrangigen Adressaten der Mordhetze und des Naziterrors. Sie waren die Hauptkraft des organisierten Widerstandes und mussten dafür unter den Parteien den höchsten Blutzoll zahlen. Wir erinnern an sie und verteidigen dieses Erbe gegen die deutsche Rechte von heute sowie ihre Mitläufer und ignorante Zeitgenossen.

Entschieden wurde auch über einen Antrag der Grünen, zur "Verantwortlichkeit der Bundesregierung für den Umgang des Bundesnachrichtendienstes mit den Fällen Klaus Barbie und Adolf Eichmann" einen Bericht vorzulegen sowie alle einschlägigen Akten dem Bundesarchiv zur wissenschaftlichen Auswertung zu übergeben. Der Antrag wurde gegen die Stimmen von Grünen und DIE LINKE bei Enthaltung der SPD (!) ebenfalls von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Es wird sichtbar, mit welchem Zynismus Führungskreise der deutschen Rechten weiterhin die damaligen Beschützer von NS-Verbrechern, die häufig den Regierungsparteien angehörten, überfälligen Geboten konsequenter Offenlegung und kritischer Darstellung entziehen.

NSU-Mordserie im Licht der Geschichte: Wo liegen historische Ursachen des Versagens von Verfassungsschutz, Behörden, Justiz, Politikern und Medien?

Der Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, ist Mitglied und Politiker der CSU, also einer deutschen Rechtspartei, deren Vorgängerin - die Bayerische Volkspartei - noch Ende Januar 1933 um die Einbeziehung in eine Koalitionsregierung unter Hitler gebuhlt hatte. Ihr damaliger Vorsitzender Fritz Schäffer saß ab September 1949 in der Regierung Adenauer und vertrat nunmehr die Nachfolgepartei bei der Bonner Schlusstrichpolitik und Kommunistenverfolgung. Mitte Januar 2013 diskutierte Friedrich mit Zwölfklässlern in Erfurt. In der Thüringischen Landeszeitung (TLZ) vom 19. Januar 2013 war über seine Aussagen zu lesen: "Linksextremisten seien genauso gefährlich wie Rechtsextremisten". Und weiter: "'Der Linksextremismus unterscheidet sich von den Nazis nur marginal', sagte Friedrich." Das ist politisch-ideologische Beihilfe für den Alt- und Neonazismus, zumindest dessen massive Begünstigung. Es sind jene Positionen, die ideologisch das Versagen gegenüber dem NSU-Terror und überhaupt gegen den Neofaschismus seit Gründung der Bundesrepublik maßgeblich mit verursacht haben. Sie werden vom verantwortlichen Minister des Kabinetts Merkel nach einer dazu bereits über ein Jahr geführten kritischen öffentlichen Debatte unverfroren wiederholt. Diese Aussagen bedeuten beispielsweise: Die für den Nazismus von gestern und heute charakteristischen rassistisch-menschenfeindlichen Auffassungen, Ziele und terroristischen Methoden werden von Rechtskonservativen der Bundesregierung und somit seitens der verantwortlichen Führung von Verfassungsschutz, BND und BKA als marginal, als praktisch bedeutungslos beurteilt. Ihr Hauptanliegen ist es, die behaupteten Analogien zwischen Nazis und deren linken, also entschiedensten, Gegnern als glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Was verbindet die Auseinandersetzung um den NSU und das Versagen bei der Verfolgung von Rechtsterrorismus mit den angesprochenen geschichtlichen Vorgängen? Dazu habe ich mich gegen Ende meiner Ausführungen Ende Juni in Berlin geäußert: Eine wirklich an die Wurzeln reichende Aufklärung wird nur möglich sein, wenn die Wahrheiten über die Hauptverantwortlichen für das Scheitern der Weimarer Republik uneingeschränkt benannt und Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Es setzt weiterhin voraus, dass die Schlusstrichpolitik der Mitte-Rechts-Regierung unter K. Adenauer ab September 1949 mit allen kritikwürdigen Folgeerscheinungen endlich unbeschönigt aufgearbeitet und öffentlichkeitswirksam dargestellt wird.

Abschließende Bemerkungen sollen eine Woche nach dem Weltfriedenstag und Antikriegstag daran erinnern, dass Antifaschismus und Antimilitarismus die gleichen geschichtlichen Ursprünge sowie gemeinsame Motive und Ziele haben. Wir erleben seit Jahren und akut in diesen Tagen und Wochen eine menschenverachtende, völkerrechtswidrige und friedensgefährdende Rüstungs-, Droh- und Interventionspolitik. Auch in diesem Land finden sich erschreckend viele Politiker, Journalisten und sonstige Stimmen, die selbstgerecht und leichtfertig auf die Willkür und die Waffen der Mächtigen in dieser Welt sowie deren aggressivste Vorreiter setzen. Wir schließen uns dem entschiedenen Nein von Bewegungen, Organisationen und Persönlichkeiten an, die sich dem neuerlichen verantwortungslosen Umgang mit den elementarsten Menschenrechten - denen auf Frieden und auf Leben - widersetzen. Wir appellieren, den 2014 bevorstehenden 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten sowie den 75. des Beginns des Zweiten Weltkriegs zu nutzen, um die bitteren Lektionen der Geschichte zu Krieg und Frieden im Lichte heutiger Erfordernisse neu aufzuarbeiten. Es geht darum, gegen mächtige Widerstände weltweit dem Völkerrecht und elementaren friedens- und abrüstungspolitischen Zielen und Bestrebungen dauerhafte Geltung sowie bestimmenden Einfluss auf die Wege der Völkergemeinschaft zu verschaffen.

Jüngere Veröffentlichungen von Ludwig Elm zum Themenkreis:

  • Legal in den Verbrecherstaat? Zum Anteil aller bürgerlichen Parteien an der Zerstörung der Weimarer Republik und der Errichtung der nazistischen Diktatur 1932/33, Jena 2008, 16 S. (Rosa- Luxemburg- Stiftung-Thüringen e. V. TEXTE & ARGUMENTE) (www.die-linke.de/partei/weiterestrukturen/berufenegremien/historischekommission/diskussionsbeitraege/legalindenverbrecherstaat)
  • Rückblicke auf 1933 - Atemberaubender "Mut zur Lücke" in den Medien, in: antifa, Juli/August 2008, S. 24f. (antifa.vvn-bda.de/200807/2401.php)
  • Selbstaufgabe eines Parlaments, in: Marxistische Blätter (MB), 6, Nov./Dez. 2012, S. 74-80 (www.marxistische-blaetter.de)
  • Das Verhalten der bürgerlichen Fraktionen des Reichstages und ihrer Abgeordneten, in: Der Tag von Potsdam. Der 21. März 1933 und die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur. Hrsg. von Christoph Kopke und Werner Treß, Berlin - Boston 2013, S. 134-146 (Europäisch-jüdische Studien. Hrsg. vom Moses Mendelssohn Zentrum, in Kooperation mit der Gesellschaft für Geistesgeschichte. Redaktion: W. Treß, Bd. 8)
  • Der Umgang mit der NS-Vergangenheit. CDU, CSU und FDP verweigern weiterhin Selbstkritik und Aufklärung, in: MB, 1, Jan./Febr. 2013, S. 31-38 (www.marxistische-blaetter.de)
  • Eine Demokratie schafft sich ab. Zur Rolle der bürgerlichen Parteien, Beitrag auf der Geschichtspolitischen Konferenz der VVN-BdA e. V. "Lizenz zum Terror. Das Jahr 1933. Vorgeschichte, Geschichte und Geschichtsbild", Berlin, 28. und 29. Juni 2013 (www.nrw.vvn-bda.de/texte/1117_elm.htm), vgl. auch den Tagungsbericht von Mathias Wörsching. (faschismustheorie.de/wp-content/uploads/2013/03/Woersching_Bericht_Geschichtspolitische-Konferenz-der-VVN-BdA_06-13.pdf)