Zum Hauptinhalt springen
Konferenz "Epochenbruch 1914-1923"

Das Echo der Revolution in Westeuropa

Prof. Dr. Reiner Tosstorff

In den letzten Jahren haben sich die Historiker für die Frage interessiert, ob tatsächlich nach Ende des Ersten Weltkriegs friedliche Verhältnisse in Europa einkehrten oder nicht. Dabei steht die Schaffung und Durchsetzung der neuen Nationalstaaten aus dem Zerfall der alten Vielvölkerstaaten und die dadurch ausgelöste Gewaltexplosion im Zentrum, wie das beispielhaft Robert Gerwarth gezeigt hat. Und es ist zweifellos richtig, dass das ein gewaltsamer und blutiger Prozess war, so dass man mit einigem Recht sagen kann, mit dem Ende des Kriegs im Westen sei eigentlich der Weltkrieg im Osten weitergegangen.

Sicherlich ist dieses neue Interesse ganz von "1989" bestimmt, den Folgen des Endes des "realsozialistischen Lagers", das ja zu einer Art erneuerten Nationalstaatsbildung in Osteuropa geführt hat, zumindest was das Selbstverständnis eines Teils der neuen politischen Eliten, aber auch breiter, von den Segnungen des Neoliberalismus enttäuschter Volksschichten anbetrifft. Dies sollte aber nicht vergessen lassen, dass die Bewegung, die von der russischen Revolution 1917 und nicht zuletzt vom Oktoberumsturz ausging, ja auf die Schaffung ganz neuer sozialer Beziehungen ausgerichtet war. Die Bildung neuer Nationalstaaten war davon zwar beeinflusst, stand aber oft genug auch im offenen Gegensatz dazu.

Doch im Folgenden wird ein Überblick über die Entwicklungen in Westeuropa versucht, also der Länder westlich und südlich von Deutschland (womit auch die Entwicklung hier im Gefolge der Novemberrevolution mit ihren ganz eigenen Charakteristika ganz außer Acht gelassen wird). Nicht nur, weil es im Rahmen der Vorträge einen eingrenzbaren Raum geben muss, sondern weil dieser Raum auch mit einem wesentlichen Unterschied zu Osteuropa besonders charakterisiert werden kann. Denn hier wurden nicht nur – mit der Ausnahme Irland – keine neuen Nationalstaaten gebildet. Sondern es waren auch keine Staaten, die auf der Verliererseite im Krieg gestanden hatten. Sie waren entweder Sieger oder wenigstens neutral. Das bedeutete auch, vereinfacht gesagt, dass hier ja nicht wie im Osten die alte Staatsmacht militärisch zusammengebrochen war, wo die neugebildeten Staaten, wenn sie nicht mit dem Stigma des Verlierers behaftet waren, erst mühsam aus den Überresten der alten Vielvölkerreiche zusammengesetzt werden mussten. Damit hatten sie enorme Erblasten zu schultern, die vor allem katastrophale wirtschaftliche Folgen hatten.

Das hieß aber auch, dass es nicht zur Herausbildung von Räten, einer alternativen revolutionären Macht, die diesen Anspruch zumindest für eine gewisse Zeit erheben konnte bzw. durchzusetzen versuchte, gekommen war. Das charakterisierte ja zumindest die Entwicklung in Deutschland, Österreich oder Ungarn. Angesichts dieser Situation war es sicher kein Zufall, dass angesichts einer insgesamt eher langsameren sozialen Bewegung es im Gegensatz zu den Verliererstaaten in Mittel- und Osteuropa unmittelbar nach Kriegsende auch noch nicht zur Bildung kommunistischer Parteien kam, wie das etwa im Winter 1918/19 in Österreich, Ungarn, Deutschland und Polen bereits geschah. Das ist, wenn auch unvermeidlicherweise sehr schematisch, die Ausgangslage, um das Echo der russischen Revolution in Westeuropa nachzuzeichnen.

Bei denjenigen westeuropäischen Ländern, die direkt zu den Siegermächten gehörten, also Frankreich, Großbritannien, Belgien und Italien, war das politische Klima sogar erst einmal durch eine Welle des Chauvinismus bestimmt. Das zeigte sich an den Wahlen, die insbesondere in Großbritannien (14. 12. 1918) und Frankreich (16. / 30. 11. 1919) mit einem deutlichen Rechtsruck endeten. Die nationalistische Propaganda ("Deutschland muss für den Krieg zahlen!") dominierte und die Linke rückte in die Defensive. Die neu gebildeten Regierungen waren deutlich rechter, was sich auch umgehend bei politischen und sozialen Konflikten zeigen sollte. Im Siegerland Italien war die Entwicklung insofern etwas komplizierter, als dort bald trotz der erheblichen Zugewinne (Südtirol bis an den Brenner, Istrien) das Gefühl aufkam, man habe den Sieg – aufgrund unzureichender Territorialgewinne, insbesondere angesichts der alliierten Versprechungen bei Italiens Kriegseintritt – de facto halb verloren, was dann einen gewichtigen Beitrag zur Herausbildung einer ganz neuartigen außerparlamentarischen nationalistischen Bewegung darstellte, des Faschismus, auf dessen weitere Erörterung hier allerdings verzichtet werden muss.

Doch trotz des nationalistischen Klimas waren auch gewisse Zugeständnisse nötig. Dafür wurden Formen dessen, was bald Sozialpartnerschaft genannt wurde und was ein wesentlicher Bestandteil der Organisierung der Kriegswirtschaft gewesen war, unter modifizierten Bedingungen fortgeführt. Alle Friedensverträge, die in Paris mit den Verlierern im Jahre 1919 abgeschlossen wurden, also nicht nur der Versailler Vertrag mit Deutschland, enthielten einen Abschnitt über die Einrichtung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Rahmen des neu geschaffenen Völkerbundes. Sie sollte den sozialen Ausgleich durchführen, aber ohne dabei den Kapitalismus in Frage zu stellen, indem sie Gewerkschafts- und Unternehmervertreter zusammen mit den Regierungen an einen Tisch brachte und dadurch eine friedliche Alternative zum gewaltsamen revolutionären Weg, verkörpert in dem Bolschewiki und den sich auf sie berufenden Bewegungen und Kämpfe in ganz Europa, weisen sollte. Sie existiert ja noch heute, jetzt im Rahmen des UNO-Systems, auch wenn die hochgesteckten Ansprüche von einst inzwischen auf sozialpolitische Expertise und Beratung gestutzt wurden, eben ohne die damals in der politischen Atmosphäre der unmittelbaren Nachkriegszeit verkündeten Ansprüche auf Herstellung eines grundlegenden sozialen Wandels, einer "Lösung der sozialen Frage". Aber in jener Situation war es natürlich kein Zufall, dass an ihrer Spitze nicht ein Beamter oder Diplomat wirkte, sondern ein prominenter französischer Sozialdemokrat des rechten Flügels, Albert Thomas, ein ehemaliger Mitarbeiter von Jean Jaurès, der engen Kontakt zur Führung der internationalen – sozialdemokratisch ausgerichteten – Gewerkschaftsbewegung unterhielt.

Darin drückte sich aus, dass bei den Herrschenden durchaus ein Bewusstsein existierte, wie sehr die kapitalistische Nachkriegsordnung durch die Auswirkungen der Entwicklung in Russland erschüttert war. Und tatsächlich schien die Revolution ja nicht isoliert zu bleiben. Noch am ehesten Deutschland war möglicherweise dabei, dem russischen Beispiel nachzufolgen. Spartakus war jetzt ein geflügeltes Wort geworden, und das bezog sich nicht auf die alten Römer.

Auf diese Weise zeigte sich, dass das politische Klima in Westeuropa keineswegs ausschließlich vom Chauvinismus bestimmt war. Zudem trugen die sich entwickelnden inneren Konflikte, da es nicht wie im Osten Europas um Staatsbildung ging, einen stärkeren sozialen Charakter, waren eben Klassenkampf. In allen westeuropäischen Ländern kam es zu großen Streikbewegungen. Neben Lohnerhöhungen stand die Arbeitszeitverkürzung, die Durchsetzung des Acht-Stunden-Tags, im Mittelpunkt. Hier können nicht alle großen Streiks aufgeführt werden. Zwei Beispiele – in diesem Fall neutral gebliebener Länder, die allerdings zumindest wirtschaftliche Auswirkungen des Kriegs erfahren hatten – seien genannt: der Schweizerische Landestreik von November 1918 und die Welle von Streiks im Frühjahr 1919 in Barcelona. In diesen und ähnlichen Fällen wurde mit einer Mischung von Zugeständnissen (Lohnerhöhungen und Acht-Stunden-Tag) und bald einsetzender Repression reagiert. In Barcelona nahm sie eine besonders gewalttätige Form an, indem die Unternehmer in den Monaten nach dem Streik Pistoleros auf die führenden Gewerkschafter hetzten, um sie umzubringen. Dies entsprach der Situation, dass in dieser Stadt die anarchistisch beeinflussten und syndikalistisch ausgerichteten Gewerkschaften revolutionär orientiert waren. In der Schweiz und in vielen anderen Ländern begnügte man sich mit "normaler" Repression – Verhaftungen und Gefängnisstrafen –, wobei die sozialdemokratischen Führungen angesichts dieser Situation nicht weiter wussten. Sollten sie als Antwort auf die Repression über ihren politischen Schatten springen und in eine revolutionäre Richtung gehen? Das verstärkte die inneren Konflikte innerhalb der Gewerkschaftsbewegungen und vor allem der sozialdemokratischen Parteien.

Auch über die unmittelbare Nachkriegszeit, den ersten Monaten nach Kriegsende im November 1918, setzten sich die Streikbewegungen fort, bis weit in das Jahr 1920. Besonders wichtig sind hier noch der Eisenbahnerstreik in Frankreich im Mai 1920 und die Betriebsbesetzungen in Norditalien mit Schwerpunkt in der Metallindustrie von Juni bis September 1920. Während der Eisenbahnerstreik direkt von der Regierung gebrochen wurde, war in Italien entscheidender, dass sich die Gewerkschaftsführung mit zahlreichen Zugeständnissen zufrieden gab und die Betriebe nach Abschluss einer umfassenden Vereinbarung mit den Unternehmern räumte. Das waren allerdings Streik-Höhepunkte, die, wenn auch nicht aufgrund ihrer unmittelbaren Forderungen, so doch von ihren Dimensionen her direkt die Machtfrage in den Fabriken wie letztlich dem Staat stellten. Zwar konnten sie vorübergehend das Wirtschaftsleben paralysieren und zwangen den Staat zum ganzen Einsatz seiner Machtmittel. Dafür schufen die Streikenden auch direkte Vertretungsorgane als Streikleitungen. Sie wirkten aber im Wesentlichen als Betriebsräte und erreichten praktisch nie das Studium politischer Räte und damit das einer "Doppelherrschaft", wie das in Russland nach der Februarrevolution bezeichnet wurde. Die meisten Streiks waren allerdings wesentlich beschränkter, partieller, was jedoch nicht heißt, dass sie deswegen immer friedlich abliefen.

Vorausgegangen war den großen Streiks in Frankreich, Italien oder auch anderen Ländern, die ihren Ausgang in der sozialen und ökonomischen Lage hatten und in deren Mittelpunkt entsprechende Forderungen standen, ein Versuch zu einem gemeinsamen politischen Streik in beiden Ländern am 20. / 21. Juli 1919. Hier ging es um einen Solidaritätsstreik mit Sowjetrussland, genauer um einen Streik gegen die alliierte Intervention im russischen Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen. Er blieb jedoch erfolglos. Eine wirkliche Mobilisierung hatten die sozialdemokratischen und Gewerkschaftsführungen nicht unternommen. Ähnlich war auch der Versuch der USPD, diesen Streik ebenfalls in Deutschland auszurufen, angesichts der mangelnden internationalen Mobilisierung im Vorfeld erfolglos geblieben. Doch die Auseinandersetzungen darum zeigten an, dass sich immer stärker breite Strömungen in der westeuropäischen Arbeiterbewegung mit der russischen Revolution solidarisierten. Diese Radikalisierung nahm in den folgenden Monaten immer breiteres Ausmaß an. Dabei spielten eben die gemachten Erfahrungen in den gesamten Streikbewegungen, die Auseinandersetzung darum, wie sie hätten geführt werden sollen  und was ihre Ursachen für die Niederlagen waren, eine zentrale Rolle.

Wie bereits erwähnt, war es ja in Westeuropa noch nicht zur Gründung kommunistischer Parteien – oder besser: Proklamation, denn oft handelte es sich in Mittel- und Osteuropa zunächst um nicht mehr als das – gekommen. Dabei hatte es auch hier bereits während des Kriegs eine revolutionäre Anti-Kriegsbewegung gegeben, die sich an den Konferenzen von Zimmerwald (1915) und Kienthal (1916) orientiert hatte. Doch war daraus zunächst nicht der Schritt zur Gründung unabhängiger Parteien gefolgt. Stattdessen wirkten die Anti-Kriegsminderheiten im Wesentlichen weiterhin auf die existierenden Massenorganisationen ein, insbesondere die Sozialdemokratie, aber zum Teil auch entsprechend den jeweiligen Traditionen auf die syndikalistisch beeinflusste Gewerkschaftsbewegung. Diese Situation ergab sich vor allem daraus, dass die hier vorhandenen Spielräume größer waren als in Mittel- und Osteuropa. Dort hatte bei dieser Entwicklung vor allem eine Rolle gespielt, dass es in der SPD bereits im Weltkrieg, 1916/17, zur Spaltung gekommen war. Nach Ausbruch der Novemberrevolution ging dann die SPD ein enges Bündnis mit der alten Generalität gegen die Rätebewegung ein. Dies wirkte auch auf die angrenzenden Länder, für die die die deutsche Sozialdemokratie bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine Leitfunktion ausgeübt hatte. Und umgekehrt, als Reaktion darauf, beschleunigte diese politische Konstellation in Mittel- und Osteuropa die Schaffung kommunistischer Parteien gegen die sozialdemokratischen Bemühungen um die Fortführung des Kapitalismus in einer demokratisch-parlamentarischen Form.

Man kann lange darüber diskutieren, warum die deutsche Arbeiterbewegung einen solchen Sonderweg eingeschlagen hatte, der zu ihrer frühen Spaltung bereits im Krieg führte. Dafür ist hier allerdings nicht der Platz. Zumindest sei darauf hingewiesen, dass sich die Kontakte der deutschen Sozialdemokratie zum zuvor dazu gänzlich unwilligen preußisch-deutschen Staatsapparat im Verlauf des Kriegs, wenn auch unterhalb der Regierungsebene, enger gestaltet hatten. In Westeuropa dagegen waren die Sozialdemokratie und die Arbeiterbewegung insgesamt vor 1914 zwar organisatorisch deutlich schwächer gewesen, verfügten aber über einen breiteren legalen Status. Somit nahmen sie 1914 nicht nur ihre jeweilige nationale Variante der Burgfriedenspolitik an, sondern traten sogar in Frankreich, Großbritannien und Belgien in die Regierung ein, was in Deutschland, im preußisch-deutschen Staat, trotz des August 1914 weiterhin unvorstellbar blieb und erst angesichts des unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs, zur möglichst weitgehenden Rettung der gesellschaftlichen Verhältnisse, also wenige Wochen vor Kriegsende, möglich wurde. (In Italien, Kriegsteilnehmer ab 1915, stand die Sozialistische Partei dagegen schon immer auf Anti-Kriegs-Kurs.) In Großbritannien und Frankreich jedoch – Belgien war ein Sonderfall, weil es sich hier wegen der deutschen Besetzung um eine Exilregierung handelte – verließen die Sozialdemokraten bzw. Sozialisten allerdings im Verlaufe des Kriegs die Regierung als Ausdruck davon, dass die Kritik an der Fortführung der Burgfriedenspolitik angesichts eines nicht absehbaren Kriegsendes innerhalb der Partei immer stärkeren Zulauf erhielt und diese somit auch im Umkehrschluss bei den Herrschenden nicht mehr als patriotisch "zuverlässig" galten.

Entsprechend fand die Radikalisierung in den allermeisten Ländern ihren Ausdruck in dem Zulauf, den die sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien gewannen, die nun zum Teil erst zu regelrechten Massenparteien wurden. Dies war mit einem Führungswechsel verbunden, was auch ausdrückte, dass hier die innerparteiliche Demokratie, nicht zuletzt auf Grund der nicht so engen Verbindung mit den jeweiligen Staatsapparaten, nicht so deutlich hatte ausgeschaltet werden können. Die alten Führungen, die den Weltkrieg mitgetragen und für die Regierungsbeteiligung – zumindest bis 1916 – gestanden hatten, wurden abgewählt. An ihre Stelle traten Kriegsgegner. Sie waren aber zumeist vom Pazifismus bestimmt und lehnten eine revolutionäre Programmatik, auch angesichts fehlender Arbeiter- oder gar Soldatenräte, ab. Bei aller Solidarisierung mit Sowjetrussland, wie sie sich zum Beispiel in Protesten gegen die von den alliierten Regierungen (v. a. Frankreich und Großbritannien) durchgeführte Intervention im russischen Bürgerkrieg ausdrückte, drückte sich doch bei den neuen Führungen eine klare politische Distanz zu den Bolschewiki aus. Noch war 1919 die Hoffnung groß, es könne die alte Arbeiterbewegung von vor dem Ersten Weltkrieg in ihrer Einheitlichkeit wiederhergestellt werden.

Und so gaben sich im Februar 1919 in Bern Vertreter der sozialdemokratischen Parteien aus den beiden ehemals verfeindeten Kriegslagern wieder die Hand, zusammen mit solchen aus den früheren neutralen Staaten. Dem folgten eine Reihe weiterer Treffen, bis sich schließlich die zweite Internationale formell rekonstituierte. Dagegen war die Linke, die im Krieg den Burgfrieden bekämpft hatte, zunächst unschlüssig. Im März 1919 hatten die Bolschewiki auf einer Konferenz in Moskau in Anwesenheit nur weniger Vertretern von außerhalb eine neue, die Kommunistische Internationale, gegründet. Sie beanspruchte ganz und gar mit der Sozialdemokratie zu brechen.

Nach verschiedenen Versuchen im Verlaufe des Jahres 1919, irgendwie eine vermittelnde Lösung aus dieser sich anbahnenden Konfrontation zu suchen, die jedoch mehr Überlegungen blieben als realistische politische Initiativen darstellten, war aber insbesondere nach den im Laufe der Monate bei den sozialen Konflikten gemachten Erfahrungen die Anziehungskraft Moskaus groß geworden. Als dann im Sommer 1920 die Führung der Kommunistischen Internationale zum zweiten Kongress einlud, kamen nicht nur die Vertreter der bereits existierenden Kommunistischen Parteien. Auch zahlreiche sich nach links hin entwickelnde sozialdemokratische Massenparteien und sogar Gewerkschaften schickten Delegationen. Der zweite Kongress der Kommunistischen Internationale (19. Juli bis 7. August 1920) wurde so zum eigentlichen Gründungskongress. Ohne dass hier seine Debatten und Beschlüsse im Einzelnen nachgezeichnet werden können – am bekanntesten wurden die vom Kongress aufgestellten einundzwanzig Bedingungen für den Beitritt zur Kommunistischen Internationale –, wurden auf diesem Kongress die organisatorischen und politischen Grundlagen dafür gelegt, dass in den folgenden Monaten in den nach links gerückten sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa die Vorgaben der Kommunistischen Internationale entweder mit Mehrheit angenommen wurden. Dann verwandelten sie sich direkt in kommunistische Parteien wie z. B. bei den französischen Sozialisten oder bei der USPD, wobei dann die Minderheiten den alten Namen fortführten. Blieben allerdings die pro-kommunistischen Kräfte in der Minderheit, spalteten sie sich ab wie z. B. in Spanien oder in Italien. Die so neu zustande gekommenen kommunistischen Parteien mit dem Anspruch von Massenorganisationen verstanden sich jetzt anders als bei der Vorkriegssozialdemokratie als revolutionäre Parteien, die sich nicht mehr auf Parlamentarismus und Reformarbeit beschränken wollten. Der Krieg hatte alle gesellschaftlichen Verhältnisse erschüttert. Was anstand, war ein internationaler, ja globaler Bürgerkrieg. Entsprechend mussten sich jetzt die kommunistischen Parteien organisatorisch strukturieren und politisch ausrichten, wie es der zweite Kongress in seinen Beitrittsbedingungen gefordert hatte.

Die Entwicklung in Westeuropa war also langsamer verlaufen als in Mittel- und Osteuropa. Zu direkten Machtkämpfen wie dort, deren höchster Ausdruck die verschiedenen Versuche zur Schaffung von Räterepubliken gewesen waren, war es allenfalls in regional und zeitlich sehr beschränkten Ansätzen gekommen. Was in Westeuropa gefehlt hatte, waren ja nicht nur die Arbeiterräte, von einigen Ansätzen abgesehen, wie bereits ausgeführt wurde, sondern zu allererst revolutionäre militärische Formationen, sei es in Gestalt von Soldatenräten, die in den bestehenden Armeen die militärischen Hierarchien in Frage stellten, oder gar im letzten Stadium revolutionäre Armeen. Hier hatte die Staatsmacht im Wesentlichen das Kriegsende intakt erlebt und die sich auch hier entwickelnde soziale Radikalisierung setzte mit ein bis zwei Jahren Verzögerung ein. Das wirkte sich also erst aus, als in Mittel- und Osteuropa die revolutionäre Welle bereits in harten Niederlagen geendet war.

Was in dieser Situation für die Hinwendung nach Moskau im Verlaufe des Jahres 1920 entscheidend war, war zweifellos die "revolutionäre Attraktivität" Sowjetrusslands durch die Tat der Bolschewiki. Während die Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg nur vom Sozialismus gesprochen hatte, hatten die Bolschewiki gehandelt. Sie waren die Revolutionäre der Tat, nicht nur der Worte. Sie hatten dabei nicht nur mit den Weißen zu kämpfen gehabt, sondern auch mit einer alliierten Intervention des westlichen Imperialismus. Der dadurch jedoch in den Heimatländern hervorgerufene große Widerstand, der bis hin zu Widerstand und sogar offenen Meutereien in den entsandten Truppen geführt hatte (auf dem französischen Flottenverband im Schwarzen Meer), trug zusätzlich zu den natürlich als Hauptfaktor wirkenden sozialen Konflikten zur Radikalisierung bei und erwies sich somit als ein wichtiges Moment bei der Hinwendung zu den Bolschewiki. Diese Bewegung gegen die Intervention führte zu einer politischen Solidarisierung mit den Bolschewiki und trug mit dazu zur Herausbildung kommunistischer Strömungen in den einzelnen Ländern bei.

Dieser Überblick kann sicherlich nur beanspruchen, den großen Bogen nachzuzeichnen. Vieles ist vereinfacht und notwendigerweise alles pauschal beschrieben. Der beschränkte Raum erlaubt nicht, viele Einzelheiten und vor allem Besonderheiten in bestimmten Ländern hervorzuheben. So ist hier viel den sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien die Rede gewesen, doch sei noch wenigstens erwähnt, dass es insbesondere in Südeuropa starke anarchistische und syndikalistische Kräfte gab. Sie waren in Spanien sogar dominant, verfügten aber auch in Italien und Frankreich über eine starke Präsenz in der Gewerkschaftsbewegung. Zwar kam es auch unter diesen Kräften zu pro-kommunistischen Strömungen, doch war hier die Hinwendung nach Moskau aufgrund der anarchistisch-syndikalistischen Traditionen und der in diesem Rahmen vorherrschenden Ablehnung jeglicher Politik ein viel komplizierterer Prozesse als bei den sozialdemokratischen Massenparteien und umfasste auch nur – wenn auch nicht unwichtige – Minderheiten. Er konnte – als eine gewerkschaftliche Bewegung – auch nicht direkt in die kommunistischen Parteien einmünden, sondern stellte eine der Wurzeln bei der Bildung der Roten Gewerkschafts-Internationale im Sommer 1921 dar.

Mit dieser Skizze ist versucht worden, das Echo und die Wirkung der russischen Revolution in Westeuropa anzudeuten, was schließlich genauso wie zuvor in Mittel- und Osteuropa zu der Bildung kommunistischer Parteien geführt hatte. Eine sich daran anschließende Frage, die hier aber nur gestellt werden kann, ist, ob in Westeuropa die russische Revolution und insbesondere die Bolschewiki bereits in der damaligen Zeit, den Jahren 1918 bis 1920, richtig verstanden wurden. Was waren die Erwartungen und Hoffnungen, was daraus werden könnte? Aber das sind ja Fragen, die ganz allgemein dieser Tagung zugrunde liegen.

Auswahlbibliographie: 

  • Bertrand, Charles L. (Hg.): Situations révolutionnaires en Europe, 1917-1922: Allemagne, Italie, Autriche-Hongrie, Montréal 1977.
  • Braunthal, Julius: Geschichte der Internationale, Bd. 2, 3. Aufl., Berlin u. a., 1978
  • Gluckstein, Donny: The Western Soviets. Worker's Council versus Parliament 1915 – 1920. London 1985
  • Gerwarth, Robert: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017.
  • Lindemann, Albert S.: The 'Red Years'. European socialism versus Bolshevism, 1919 – 1921, Berkeley u. a. 1974
  • Naarden, Bruno: Socialist Europe and revolutionary Russia. Perception and prejudice, 1848 – 1923, Cambridge 1992
  • Tosstorff, Reiner: "The International Trade-Union Movement and the Founding of the International Labour Organization (ILO)", in: International Review of Social History, 2005, Nr. 3, S. 399 – 433.
  • Tosstorff, Reiner: "Die Syndikalisten und die Oktoberrevolution", in: Philippe Kellermann (Hg.), Anarchismus und russische Revolution, Berlin 2017, S. 166 – 186.
  • Tosstorff, Reiner: "Spaniens Anarchisten und Syndikalisten angesichts der russischen Revolution. Zwischen begeisterter Unterstützung und libertärer Ablehnung", in: Frank Jacob – Marcel Bois (Hg.), Zeiten des Aufruhrs, Berlin 2018 (i. Dr.).