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Konferenz "Epochenbruch 1914-1923"

Unbefangen, neugierig und kritisch mit Geschichte umgehen

Begrüßung durch Bernd Riexinger, Vorsitzender der Partei DIE LINKE

Guten Morgen, liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freundinnen und Freunde, ich freue mich über die Einladung und möchte die Gelegenheit nutzen, ein paar Worte an euch zu richten zu diesem wichtigen Anlass.

Erstens, finde ich es klasse, dass wir uns als Partei mit der Geschichte, mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen. Warum machen wir das? Wir machen das, um für politisches Handeln im Heute zu lernen. Nicht umsonst sagt man ja, wer keine Geschichte hat, hat auch keine Zukunft. Also wir müssen aus der Geschichte lernen.

Ihr habt den Epochenbruch von 1914 bis 1923 gewählt. Das ist natürlich eine Fülle von geschichtlichen Ereignissen. Die begann mit dem ersten Weltkrieg und für uns natürlich als politische Linke mit dem völligen Versagen der Sozialistischen Internationale. Ähnlich wie heute haben Frieden und internationale Solidarität in den Veröffentlichungen, in den Reden auf den Parteitagen eine große Bedeutung gehabt. Als es dann aber darauf ankam, gab es ein historisches Versagen der Sozialdemokratie, insbesondere durch die Zustimmung zu den Kriegskrediten. Bis heute begründet es den Bruch zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten - die Spaltung dieser bis dahin ruhmreichen deutschen Sozialdemokratie. Aber dieses Verhältnis ist bis heute kompliziert geblieben. Wir diskutieren heute noch als LINKE, wie wir uns gegenüber der SPD politisch verhalten. Wobei die heutige SPD in vielen Fragen natürlich leider noch weiter "rechts" steht als die SPD der 10er und 20er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Trotzdem haben wir vielleicht aus der Geschichte auch nicht immer die ganz richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Es gab die historische  Spaltung und die Formierung der kommunistischen Bewegung mit der Bildung des Spartakus-Bundes. Ich glaube, dass wir uns alle darin einig sind, dass Rosa Luxemburg für uns in Deutschland mit die wichtigste Theoretikerin und eine Inspirationsquelle bis heute ist. 1918 folgte dann die unvollendete Revolution. Das hing natürlich damit zusammen, dass es in Deutschland dem Bürgertum nie gelungen war, eine richtige bürgerliche Revolution hinzubekommen. Dann ist diese irgendwie als Resultat der Beendigung des ersten Weltkrieges auf den Tisch gelegt worden. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es historisch richtig wäre, das Scheitern der sozialistischen Revolution in Deutschland in erster Linie auf "Verrat" der SPD zurückzuführen. Ich vermute mal, dass man Revolution nicht einfach so verraten kann, wenn tatsächlich die Voraussetzungen dafür bestanden haben. Selbst viele derer, die sich an dieser Revolution beteiligt haben, wollten auch nicht unbedingt eine sozialistische Revolution, sondern wären auch mit konsequenten Schritten zur Demokratie und deutlicher Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erstmal zufrieden gewesen. Ich denke, die objektiven und subjektiven Voraussetzungen waren 1918 nicht gegeben. Und da fehlte der kommunistischen und sozialistischen Linken eine alternative Strategie. Aber dennoch ist es eine Tatsache, dass auf sozialdemokratischen Befehl auf die Revolutionäre geschossen worden ist. Das sind nur ein paar Überlegungen und Fragen von mir für diese sicherlich interessanten Auseinandersetzungen auf der Konferenz, gerade über die Geschichte von 1918.

Ich komme ja selber eher aus der politischen Tradition der kommunistischen Parteiopposition. Das war die größte Strömung innerhalb der KPD, die mit August Thalheimer und Heinrich Brandler sehr viel früher als die KPD die Gefahr des Faschismus vorausgesehen hat. Sie wandte sich gegen die Bolschewisierung der kommunistischen Parteien. Man konnte ja über die Entwicklung in Russland und den Fortgang der russischen Revolution durchaus unterschiedlicher Meinung sein. Thalheimer hat ein wichtiges Buch dazu geschrieben, indem er die These verfolgt, dass man die Maßstäbe, die in einem entwickelten kapitalistischen Land für den Übergang zum Sozialismus gelten, nicht einfach auf ein Land mit ganz anderen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen übertragen kann. Man muss immer aus den spezifischen Bedingungen der jeweiligen Länder heraus die Entwicklung diskutieren. Die KPD Opposition haben immer kritisiert, dass die Bolschewiki dann versucht haben, die Internationale, insbesondere unter Stalin dann, unter ihre politische Doktrin zu bringen. Es war ein großer Fehler, dass kommunistische oder linke Politik nicht aus den Bedingungen des eigenen Landes heraus gemacht wurde, sondern praktisch unter Vorgaben eines anderen Landes, dem es als erstes geglückt war, eine Revolution zu machen. Das ging einher mit der Zerstörung der lebendigen Demokratie und der Diskussionskultur innerhalb der kommunistischen Parteien. Ich glaube, linke Parteien müssen immer kontrovers diskutieren können, verschiedenste Anschauungen müssen vertreten und Kontroversen ausgetragen werden können. Ich denke, das war auch in den Anfangsjahren der KPD möglich. Da wurde lebendig diskutiert. Da gab es namhafte Theoretiker. Es gab wirklich viele Publikationen. Davon können wir heute nur träumen. Aber nach und nach wurde es alles vereinheitlicht, wurde die Diskussion und die innerparteiliche Demokratie abgebaut. Innerparteiliche Demokratie ist die Voraussetzung für erfolgreiche sozialistische und kommunistische Parteien.

Ihr wählt ja einen Horizont bis 1923. Es ist ja ganz interessant, dass wir bei der LINKEN jetzt gerade wieder mehr über die Klassenfrage diskutieren und über die Frage sprechen: "Wie setzt sich die Arbeiterklasse heute zusammen?", "was bedeutet eigentlich Klassenkampf?", "welche Haltung nimmt DIE LINKE zu den Lohnabhängigen ein"? Ich halte das für einen wirklichen Fortschritt. Leider hat das den ernsten Hintergrund, dass wir das vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Rechten diskutieren. Also dass die Rechten durchaus in der Arbeiterklasse, bei klassischen Arbeitern, auch bei Erwerbslosen und bis in die Einzelgewerkschaften hinein Zulauf haben -  obwohl die ArbeiterInnen, wenn die AfD ihr Programm umsetzten würde, schlechter dastehen würden. Deswegen gibt es bei der LINKEN eine Diskussion, ob wir denn "die Arbeiterklasse" verloren haben. Also ich halte das übrigens auch deswegen für falsch, weil wir sie noch nie hatten. Aber wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir die Mehrheit der Lohnabhängigen ansprechen können. Dafür ist es aber auch wichtig zu sehen, dass sich die lohnabhängige Klasse heute anders zusammensetzt. Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir in bestimmten Bereichen - bei der Pflege, bei sozialen Berufen - Zuwachs für die LINKE haben. Das sind auch Lohnabhängige. Eine Krankenschwester ist nicht weniger Mitglied der ArbeiterInnenklasse als jemand, der an der Werkbank arbeitet.  Das sind Diskussionen, für die man natürlich auch einen geschichtlichen Hintergrund braucht.

1923 war der Hamburger Aufstand eine Schlüsselauseinandersetzung, der zu einem Wechsel in der KPD-Führung geführt hat. Auch die Deutungen dieses Hamburger Aufstandes sind ja sehr unterschiedlich. Ich denke auch in Bezug auf diese konkrete Situation,  dass die Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution nicht da gewesen waren. Der Aufstand wurde letztlich dazu genutzt, eine Verratstheorie aufzubauen, das die Führung versagt hätte. Es wurde die Führung ausgewechselt, und es wurde eine ultralinke Führung installiert, die später dann die verheerenden Konzepte der Sozialfaschismustheorie gegenüber den Sozialdemokraten entwickelt hat. Sie ging davon aus, dass der Faschismus ja gar nicht so gefährlich sei, die eigentlichen Gegner seien die Sozialdemokraten, weil die in Wirklichkeit Sozialfaschisten seien. Die KPD hat daraufhin auch ihre Gewerkschaftspolitik geändert, eigene Gewerkschaften gegründet, die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition, und damit das Feld in den Gewerkschaften den Sozialdemokraten und anderen überlassen. Das war ein großer historischer Fehler, weil die RGO in erster Linie aus Erwerbslosen zusammengesetzt war und weniger gestreikt hat als die vermeidlich verräterischen AGGB-Gewerkschaften. Ich sage das deswegen, weil das ein großes Hemmnis dafür war, eine Einheitsfront gegen den Faschismus herzustellen. Das ist ein geschichtlicher Fehler, aus dem wir lernen müssen. Man darf niemals Politik machen, die keinerlei Bündnisfähigkeiten mit anderen Linken ermöglicht.

Ich glaube auch, dass bei aller Kritik an der Sozialdemokratie, wir mit der Basis, mit den überzeugten SozialdemokratInnen zusammen auf der Straße für soziale Verbesserungen kämpfen sollten. Sie sind nicht unser Gegner. Aber das war ja damals auch eine wichtige Diskussion, ob man die Basis im Unterschied zur Partei ansprechen kann. Die Einheitsfronttheoretiker der KPO haben immer gesagt, das kannst du nicht, du musst immer die ganze Partei auffordern, mitzumachen und so entweder gemeinsam Druck zu machen oder einen Widerspruch zwischen Basis und Führung aus dem Prozess heraus entstehen zu lassen, nicht durch reine Agitation. Dazu wurde dann das Konzept der Übergangsforderungen entwickelt. Du kannst nicht einfach sagen, die Partei ist sozialfaschistisch, aber mit der Basis wollen wir zusammengehen. So etwas funktioniert nicht. Man kann natürlich die Zeiten nicht miteinander vergleichen. Aber man kann daraus lernen.

Ich fürchte, dass DIE LINKE insgesamt, trotz aller Anstrengungen und Errungenschaften der Historischen Kommission, eher eine geschichtslose Partei ist. Die Bedeutung von Geschichte, der Kämpfe der Arbeiterbewegung, die weit entwickelten Auseinandersetzungen unter den internationalen sozialistischen Parteien um Strategie und Taktik sind leider eher verschüttet gegangen.

In den 60er Jahren hatten die K-Gruppen immer die Geschichte bemüht, um ihren Kurs als den einzig richtigen darzustellen und haben versucht, die KPD zu imitieren oder Ähnliches. Ich glaube, solche Ansätze sind gescheitert. Wir sollten es schaffen, unbefangen, neugierig und kritisch mit Geschichte umzugehen. Wir wollen aus der Geschichte für die heutige Politik lernen und wollen auch die Auseinandersetzungen der Geschichte nicht nur den Geschichtswissenschaftlern überlassen, sondern auch in der Partei darüber diskutieren. Wenn das gelingt, können wir in der Tat davon profitieren, für eine LINKE, die heute in einer veränderten Situation, der Entstehung einer zunehmend autoritären Formation des Kapitalismus, eine veränderte Politik machen muss. Ich plädiere da eindeutig dafür, dass wir eine stärker klassenorientierte Politik machen müssen. In der Praxis, im Alltag, nicht nur in Programmen und im Parlament. Dazu können wir aus der Geschichte lernen, aber nicht mit Dogmen, sondern mit freier Diskussion, mit kontroverser Diskussion. Ich hoffe, dass wir dann hier und da auch die richtigen Schlüsse daraus ziehen.

Ich wünsche euch daher ganz herzlich für eure Konferenz viel Erfolg und viele Ergebnisse, die ich dann  gerne und mit Interesse lesen werde!