Die Junikrise 1953 - Anmerkungen zu Vorgeschichte und Nachwirkungen
Der 17. Juni 1953, der 13. August 1961 und der 7. November 1989 markieren Ereignisse in der Geschichte der DDR, deren Interpretation wohl zu den gegensätzlichsten in der jüngsten deutschen Geschichte gehört. - Von Prof. Dr. Jörg Roesler
Bezogen auf den 17. Juni reichen die konträrsten Deutungen von "faschistischer Putsch imperialistischer Mächte "bis zum "Volksaufstand gegen das SED-Regime". Beide Interpretationen entstanden bereits unmittelbar nach dem 17. Juni 1953. Sie wurden zunächst von Politikern im Osten bzw. Westen in Kalter-Kriegs-Rhetorik verkündet. Im Auftrage der Politiker haben dann die Historiker die Pflege des einen bzw. des anderen Mythos übernommen. Die Interpretation des 17. Juni wurde jeweils eingearbeitet in die beiden nationalen Geschichtslegenden: Einerseits in die bundesdeutsche, nach der die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts eine aufsteigende Linie zu immer mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit war mit zwei Abweichungen bzw. Ausrutschern: NS-Regime und SED-Regime. Die DDR-Geschichtslegende war, dass am 17. Juni von außen erfolglos versucht worden war, den unaufhaltsamen Aufstieg zum Sozialismus bzw. Kommunismus zu vereiteln. Mit dem Ende der SED-Herrschaft blieb dann als hegemoniale Geschichtsauffassung nur noch die bundesdeutsche Interpretation der Ereignisse vom 17. Juni 1953 als Volksaufstand übrig. Diese war in der Entspannungsphase der 60er bis 80er Jahre heruntergefahren worden, wurde dann aber nach 1990 verstärkt aufgelegt.
Die Volksaufstandthese ist seitdem durch nunmehr erschließbare archivalische Quellen bzw. durch möglich gewordene Befragungen von Zeitzeugen stark angereichert worden. Das Schwergewicht wurde seitens der "Aufarbeiter der DDR-Geschichte" auf die damaligen politischen Forderungen (Abschaffung des Sozialismus und Wiedervereinigung) gelegt. Die von den Linken in die Diskussion gebrachte Gegenthese lautet "Arbeiterrebellion" mit Betonung auf die wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die den Zorn der Betriebsbelegschaften hervorriefen und spontan zu Aktionen wie Streiks, Demonstrationen und Kundgebungen führten.
Die bisherige Diskussion der Historiker um die Interpretation der Junitage hat sich meist auf die Ereignisse vom 17. Juni und die der vorangegangenen Tage und der ersten Wochen danach konzentriert. Es ging um die Analyse der Aktionen (In welchem Ausmaße haben sich welche Schichten an den Streiks und Demonstrationen beteiligt?), vielfach aber auch nur um die Interpretation der von den Teilnehmern während des 17. Juni bzw. in den Tagen danach benutzten Losungen, die seinerzeit wesentlich von RIAS beeinflusst worden waren. Wenig zur Interpretation des Ereignisses herangezogen wurden bisher die Vorgeschichte des 17. Juni und die auf ihn folgende DDR-Antwort, der "neue Kurs". Unterbelichtet bzw. nur einseitig beleuchtet ist daher, warum die SED-Führung jene Maßnahmen ergriffen hatte, die dann zu Beweggründen für die Protestaktionen des 17. Juni wurden. Die Zeit davor war geprägt durch rigorose Sparpolitik, die gegenüber Kleingewerbetreibenden und Bauern repressiv durchgesetzt wurde, ab Februar 1953 (Verkündung des "Feldzugs für strenge Sparsamkeit"), aber auch die Werktätigen unmittelbar traf. Die Zeit danach waren gekennzeichnet durch die Wiederherstellung des status quo (Bauern, Handwerk, gewerbliche Mittelschichten) bzw. durch Korrekturen auf wirtschaftlichen (mehr Investitionen in die Leichtindustrie) bzw. sozialem Gebiet (Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen für die Werktätigen. Die Vorgeschichte dauerte mindestens ein Jahr, die von der Auswertung der 17. Juni geprägte Zeit danach etwa drei Jahre. Zur Vorgeschichte gehören alle Maßnahmen, die die Destabilisierung von Staat und Gesellschaft in der DDR bewirkten, die nachfolgende Geschichte umfasst den Zeitraum, in dem die Ursachen, die die Aktionen vom 17. Juni hervorgerufen hatten, beseitigt wurden, in dem die DDR sich als Staat und Gesellschaft wieder konsolidierte.
Die Vorgeschichte war durch zwei Momente geprägt: erstens durch die der DDR-Führung von sowjetischer Seite aufgeladenen enormen Rüstungslasten und zweitens durch die beträchtlichen wirtschaftlichen Folgekosten der im Gefolge des verkündeten "Aufbaus des Sozialismus in der DDR" verschärften Regulierung bis teilweise Strangulierung der "Ausbeuterklassen" und der "kleinen Warenproduzenten". Beides zusammen führte zu Stagnationserscheinungen in der Wirtschaft, zu einem deutlichen Rückgang des Versorgungsniveaus und zu sinkenden Staatseinnahmen, die ab Februar 1953 zur Verschärfung schon im Herbst eingeleiteter Sparmaßnahmen führten, der nun auch die breite Masse der "Werktätigen" traf, die (Leistungs-)lohnarbeiter insbesondere der Lohnkürzungen gleichkommende Beschluss zur Erhöhung der Arbeitsnormen. Unbestechliches Kriterium, an dem die zunehmende Destabilisierung in der Vorperiode und die rasche Konsolidierung danach recht exakt gemessen werden kann ist die Zahl der Abwanderer in die Bundesrepublik bzw. der Rückwanderer aus der BRD in die DDR. Von diesem Kriterium ausgehend lässt sich sagen, dass die Destabilisierung zwischen Februar und Juni 1953 fortlaufend zunahm. Der an der "Wanderungsbewegung" über die innerdeutsche Grenze nachvollziehbare, ab Juli einsetzende Konsolidierungsprozess in der DDR war durch eine Anzahl über den Zeitraum von Juli bis Dezember 1953 verteilten Verordnungen gekennzeichnet, welche die Wiederherstellung der sozialen Stellung (einschließlich Restitutionsmaßnahmen) der Privaten und des Verdienst- und Versorgungsniveaus der "Werktätigen" zum Inhalt hatten, für die Bevölkerungsmehrheit teilweise aber auch darüber hinaus gingen.
Die Politik der Rücknahme der im III. Quartal 1952 und ersten Halbjahr 1953 getroffenen Entscheidungen und durchgesetzten Maßnahmen blieb auf den ökonomischen und sozialen Bereich beschränkt. Gegen die von einem Teil der SED-Führung, insbesondere von Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt vertretene - und ursprünglich auch von sowjetischer Seite geteilte - Auffassung, dass der "neue Kurs" auch von politischen Umgestaltungen (im Rahmen sozialistischer Zielsetzungen) begleitet sein sollte, setzte sich nach heftigen Auseinandersetzungen in der zweiten Junihälfte und im Juli 1953 eine von Walter Ulbricht geführte Mehrheit innerhalb der SED-Führung durch, die die Auffassung vertrat, dass im Interesse der Steuerbarkeit des "neuen Kurses" keine grundlegenden politischen und personellen (es ging um die Führungsposition Walter Ulbrichts) Konsequenzen gezogen werden sollten - eine Meinung der sich die KPdSU-Führung anschloss.
Das geistige Erbe des 17. Juni waren Erfahrungen, die die Arbeiter und die politische Klasse der DDR im Juni 1953 gesammelt hatten, die auf eine Vermeidung von Konfliktsituationen wie im 1. Halbjahr 1953, d. h. für die Werktätigen vor allem auf den Verzicht auf Proteste auf der Straße und für die SED auf die stärkere Berücksichtigung sozialer Belange hinausliefen. Zum Erbe, das bis zum Ende der DDR wirksam war, gehören aber auch über die Wiederherstellung des früheren Arbeitsschutz-, Lohn- und Verbrauchsniveaus hinaus reichende soziale Errungenschaften des "neuen Kurses" wie z. B. die Einführung von Abzahlungsgeschäften bei der Anschaffung industrieller Konsumgüter, von Zusatzrenten bei langer Betriebszugehörigkeit sowie die gezielte Entschärfung des Wohnungsproblems durch die Bildung von Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften. Zum Erbe gehörten auch einige damals geschaffene Institutionen auf politisch-kulturellem Gebiet, z. B. entstanden während des "neuen Kurses" die bekanntesten Kabarette der DDR- die "Diestel" in Berlin, "die Pfeffermühle" und Leipzig und die "Herkuleskeule" in Dresden. Ein im Gefolge der Juniereignisse und des "neuen Kurses" bei vielen Intellektuellen - auch solchen in Führungspositionen der Wirtschaft - ausgelöstes "neues Denken" führte als wirksamste praktische Maßnahme zur Revision des zentralistisch-administrativen Planungssystems zugunsten einer auf Dezentralisierung der Entscheidungsbefugnisse ausgerichteten Wirtschaftsreform, die im Herbst 1953 (u. a. von Erich Apel) neben der geltenden Planung entwickelt, 1954 von der zentralen Parteiführung akzeptiert und 1955 und 1956 als "Vereinfachung der Planung" in die Wirtschaft eingeführt, (aber ab 1957 bis zum NÖS ausgesetzt) wurde.