Die neoliberale Wende. Das Jahr 1982 - Überlegungen zu Ideologie und historischem Platz
Diskussionsbeitrag von Dr. Stefan Bollinger in der Historischen Kommission anlässlich des 30. Jahrestages der neoliberalen Wende in der Bundesrepublik Deutschland
Die Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus als historischer Ereigniskette, Typus von ökonomischer, sozialer und politischer Systemgestaltung, als Ideologiekonstante eines sich reorganisierenden hegemonialen, historischen Blocks der Herrschenden in den westlichen Staaten ist nicht ganz so einfach, wie zunächst die scheinbar klare Terminierung auf den 9. September 1982, also dem Tag der Vorlage von Lambsdorffs Scheidungspapier oder auf den 1. Oktober, dem Entlassungstag des Kanzlers Helmut Schmidt nach einem konstruktiven Misstrauensvotum vermuten lässt. Auch ist Deutschland nicht der Nabel der Welt, der Erfindungsort des politisch wirksamen Neoliberalismus des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts, eher eine der kapitalistischen Metropolen, die im Nachgang, wenn auch erfolgreich dieses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell re-etablierte.
Der neoliberale Graf Lambsdorff, Finanzminister der von Helmut Schmidt geführten Bundesregierung, machte deutlich, wo die Meinungsverschiedenheiten zu seinen sozialdemokratischen Koalitionären und der bislang 13-jährigen insgesamt recht erfolgreichen gemeinsamen Regierungsarbeit zu suchen seien. Die Wirtschaft, d.h. die Unternehmer sollten von den Zwängen staatlicher Regulierung und sozialpolitischer Verantwortung befreit werden. Ihm ging es im Interesse der Wirtschaft um die "Vermeidung eines Anstiegs der gesamtwirtschaftlichen Steuerlastquote", eine "Leistungs- und investitionsfreundlichere Gestaltung des Steuersystems", vor allem um eine "dauerhafte Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme ohne Anhebung von Beiträgen bzw. Einführung von Abgaben". Das hieß für ihn die "stärkere Berücksichtigung der Prinzipien der Selbstvorsorge und Eigenbeteiligung sowie der Subsidiarität … in allen Bereichen der Sozialpolitik; Erleichterung der Flexibilisierung der Arbeitszeit, jedoch keine staatlich verordnete oder geförderte Arbeitszeitverkürzung und generell keine weitere Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Unternehmen sowie Überprüfung der bestehenden gesetzlichen Regelungen auf ihre Wirkungen für die Beschäftigung". ...