Einführende Bemerkungen zum Meinungsautausch über Geschichtspolitik, insbesondere am Beispiel der Linkskoalition in Thüringen
Diskussionsbeitrag von Ludwig Elm, Jena, in der Sitzung der Historischen Kommission
Ausgangspunkt unserer Erörterungen sind die geschichtspolitischen Debatten im Herbst 2014, die im Kontext der Bildung der Thüringer Linkskoalition geführt wurden. Es zeichnete sich von Beginn eine ausschließliche Orientierung auf den Umgang mit Gesellschaft und Geschichte der DDR ab. Frühzeitig war erkennbar, dass dies konzipiert wurde, um thematisch und substantiell die seit Beginn der 90er Jahre von Führungskreisen der deutschen Rechten (hier gebraucht im Sinne der gleichnamigen Schrift von Peter Glotz 1989) initiierten, entschieden antikommunistischen und höchst öffentlichkeitswirksamen Geschichtskampagnen, Inszenierungen und Angebote lautstark fortzusetzen. Dazu steht das bundesweit auf- und ausgebaute und auch in Thüringen installierte Netzwerk von Forschungs- und Propagandaeinrichtungen, finanziell großzügig ausgestattet und medial privilegiert, zur Verfügung. Daneben war der nach rund einem halben Jahrhundert für die Bundesrepublik unumgänglich gewordene, geöffnete und modifizierte Weg der Darstellung und erinnerungspolitischen Einordnung des deutschen Verbrecherstaates und Zweiten Weltkrieges aufzunehmen und fortzusetzen. Vor allem im Bezug auf die KZ Buchenwald und Mittelbau Dora, auch zu Jonastal und weiteren Außenlagern, gibt es seitens verschiedenster linker Kräfte weiterhin ein begrüßenswertes Engagement.
Es geht um die Geschichtspolitik einer Koalition, bei der jeder Partner zu entscheiden hat, was er substantiell bewahren und vertreten möchte, was vereinbart werden kann oder auch für weitere Klärung und Verständigung zunächst zurückzustellen ist. Die DDR programmatisch als "Unrechtsstaat" zu bezeichnen, war insbesondere seitens der Partei DIE LINKE eine schwerwiegende und folgenreiche, wissenschaftlich ungesicherte und geschichtspolitisch falsche Entscheidung. Die Stellung zu Schlüsselfragen der Geschichte und Kernpositionen des historisch-politischen Selbsverständnisses können nicht zugunsten pragmatischer machtpolitischer oder taktischer Bedürfnisse umgedeutet, zeitweise ausgesetzt oder prinzipienlos zurückgestellt oder aufgegeben werden, ohne das Rückgrat und den gesamtgesellschaftlichen Anspruch, damit auch die Glaubwürdigkeit einer Partei oder Bewegung, zu beschädigen und auf weite Sicht zu beeinträchtigen. Es gab im Ergebnis der Landtagswahl 2014 in Thüringen weder ein Kräfteverhältnis noch eine Beweislage für entsprechende Forderungen der Koalitionspartner, die der Kapitulation immerhin den Schein einer Zwangssituation hinsichtlich des fragwürdigen Kompromisses zwecks Koalitionsbildung verliehen hätten.
Schließlich ist ein deklariertes Einvernehmen in strittigen Geschichtsfragen in der Bundesrepublik keineswegs eine übliche Vorbedingung für Koalitionen. Beispielsweise wäre das im September 1949 unvorstellbar gewesen und hätte die Bildung einer bürgerlichen Mitte-Rechts-Regierung vereitelt; 1966 wären Kontroversen zwischen K.-G. Kiesinger, W. Brandt und F. J. Strauß zur jüngsten Geschichte für das Publikum hochinteressant, politisch jedoch für die Herrschenden kaum minder störend gewesen. Wieso soll gerade der Linken immer wieder - auch mit solchen Bedingungen - ein Ausnahmestatus zukommen? Die politischen Gegner werden nicht versäumen, die Unterwerfung von Ende 2014 langfristig und zu allen sich anbietenden Anlässen und Vorwänden wirksam zu benutzen und gegen die gesamte Linke auszubeuten. Für diese bleibt die Wahl, entweder die Entscheidung hinzunehmen und sich in Duckmäusertum zu üben (auch, um nach außen den Eindruck von Einigkeit vorzutäuschen), oder in einem zwangsläufig schmerzhaften Prozess Fehlentscheidungen zu benennen, ihnen kritisch auf den Grund zu gehen und umzusteuern.
Angesichts dieses nunmehr gegebenen Dilemmas wird hier dafür plädiert, in einem transparenten Diskussions- und Arbeitsprozess eine ebenso freimütige wie ergebnisoffene Meinungsbildung im breiten linken Spektrum herbeizuführen. Sie kann entweder zu einer Klärung im etwa hier und vielerorts vertretenen Sinn und damit zur kritischen Beurteilung der Fehlentwicklungen seit 2014 und zu Kurskorrekturen führen, oder zu Mehrheiten, die schließlich doch den abschüssigen Weg im Nachtrab antikommunistischer Hegemonie und der Liquidierung kämpferischer antifaschistischer und sozialistischer Positionen fortzusetzen empfehlen. Selbst wenn der letztere Fall einträte, wäre doch die undurchsichtige und unaufrichtige Hinnahme kurzsichtiger und fragwürdiger historisch-politischer Stellungnahmen einschließlich ihrer langfristigen Wirkungen durchbrochen, die Meinungsverhältnisse innerhalb des breiten linken Spektums würden ehrlicher und überschaubarer sowie die verbleibenden oder sich neu ergebenden Herausforderungen klarer erkennbar.
Die inzwischen verbreitete, kritik- und vorbehaltlose Übernahme des Diktatur-Begriffs für die DDR durch Wortführer und in Dokumenten der Erfurter Koalition und seitens nicht weniger Linker setzt das längst eingeleitete ideell-politische Unterordnen fort: Spätestens seit zwei Enquete-Kommissionen des Bundestages zur "SED-Diktatur" (1992-1994, 1995-1998) und der Errichtung einer gleichnamigen Stiftung (1998) ist die Funktion dieses Begriffs zur Herabsetzung der DDR sowie ihrer Parallelisierung mit der hitlerfaschistischen Diktatur und ihren weltgeschichtlichen Verbrechen gegen die Menschheit politisch und medial allgegenwärtig. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes enthält seit ihrer erstmaligen Verabschiedung 1999 einleitend als übergeordnetes Leitmotiv die geschichtsrevisionistische Formel des vorrangigen Gedenkens "an zwei deutsche Diktaturen und ihre Opfer". Das ist eine zuvor oder anderswo kaum vorstellbare, fundamentale Geschichtsverzerrung im Dienste indirekter apologetischer Selbstdarstellung der Bundesrepublik. Wem die damit beabsichtigte Diffamierung und Delegitimierung der DDR angemessen erscheint oder gleichgültig ist, der sollte zumindest vom Grad einer solchen Relativierung des NS-Verbrecherstaates, die dieser inzwischen staatstragenden Analogie - besser: dieser Lebenslüge der Bundesrepublik - innewohnt, beunruhigt sein, nachdenklich werden und zumindest aus diesem Grund solche sprachlichen Nötigungen kritischer reflektieren und nicht unbesehen ins eigene gesellschaftspolitische und geschichtsbezogene Vokabular übernehmen.
Wissenschaftlich unhaltbar ist der hierzulande vorgegebene und inzwischen verbreitete Gebrauch von "Diktatur" für die DDR als ein Begriff, der mittels willkürlicher Kriterien und Konstruktionen als Sammelbegriff völlig gegensätzlicher und unvereinbarer Grundströme und Ideologeme wie Faschismus einerseits und Sozialismus/Kommunismus andererseits benutzt wird. Er ist Kernbestandteil des auf dem Totalitarismuskonzept fußenden Demokratie-Diktatur-Schemas, das als Korsett konservativ-antikommunistischer Geschichtsschreibung und -propaganda fungiert. Die Linken sollten sich nicht einem bürgerlichen Demokratieverständnis anschließen, das den jeweils entscheidenden gesellschaftlichen Hintergrund und Kontext, die realen Macht- und Anbhängigkeitsverhältnisse sowie konträren Interessen, vorsätzlich vernachlässigt oder überhaupt ignoriert. Die Totalitarismustheorie ist in ihren rechtsgerichteten Versionen unwissenschaftlich und apologetisch; sie bedarf der Schwarz-Weiß-Zeichnungen, der holzschnittartigen, groben Feindbilder. Es gibt allein aus den letzten Jahren dafür unzählige Belege dreister Entstellungen der Geschichte. Dazu haben linke und liberale Autoren immer wieder beweiskräftige kritische Beiträge vorgelegt, beispielsweise zu Einschätzung der Weimarer Republik und ihres Scheiterns, Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 und antifaschistischem Widerstand, Charakter der Restauration in den Westzonen und der Bundesrepublik sowie Spaltung Deutschlands ab 1947/48.
Darüber hinaus setzt die Erarbeitung strategischer antikapitalistischer und sozialistischer Alternativen voraus, dass die politischen Strukturen und Praktiken der entwickelten kapitalistischen Länder keineswegs schlechthin als Normen für Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Gerechtigkeit und andere Werte hingenommen und gar eigenen Konzepten unbesehen einverleibt oder zugrundegelegt werden. Auch dafür lässt sich ein vielgestaltiges Beweismatrial beibringen. Die zentralen Begriffe der Politik- und Geschichtswissenschaft sind in historischen und internationalen Dimensionen, Typisierungen und Vergleichen zu verifizieren und setzen voraus, sich vom Dogma der Allgemeingültigkeit und Alternativlosigkeit des Kapitalismus und seiner politischen Ausformungen, somit erst recht von seinen verlogenen Selbstdarstellungen, zu befreien.
Der Verzicht auf ein Mindestmaß an alternativer Substanz und Strategie in der Geschichtspolitik, äußert sich in geradezu blamabler Weise darin, dass das "Aufarbeitungs"-Konzept hinsichtlich der Nachkriegsgeschichte "selbstredend" weitgehend auf die DDR beschränkt wird. Das entspricht der Hinnahme, gar Akzeptanz, der antikommunistischen Grundorientierung, bedient die Fortschreibung der seit 1990 gegebenen und wachsenden Asymmetrie der Akteure und Objekte und trägt den Vorgaben der herrschenden Geschichtsideologie Rechnung. Es bezeichnet besonders markant die Entmündigung großer ostdeutscher Bevölkerungsgruppen, die sich beispielsweise erinnern, dass der 8. Mai in der DDR wie in Westeuropa und anderswo seit Beginn der Nachkriegsperiode als Gedenktag galt, es jedoch in der Bundesrepublik bis heute nicht sein darf. Hier wird offiziös selbst die unvermeidliche Erwähnung der damaligen Zäsur auf "Kriegsende" beschränkt.
Es gibt BürgerInnen, die sich erinnern, dass im Braunbuch der DDR 1965 dokumentiert worden war, in welchem Maße die "freiheitlich-demokratische Grundordnung" in ihren Führungspositionen und Hierarchien nicht nur von Mitläufern, sondern auch - selbst schwer belasteten - NS-Tätern durchsetzt war. Es geht um Wahrheiten, die erst weit über eine Generation später - Ende 2011 - von einer Bundesregierung gezwungenermaßen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil amtlich bestätigt und mit manchen Fakten sogar vervollständigt wurden. Dieses Zeitraumes von etwa einer Generation hatte es bedurft, um im Geist der Retauration sowie des Auftrages von Art. 131 GG und der dazu 1951 erfolgten Gesetzgebung, alle beruflichen und sozialrechtlichen Ränge, Verdienststufen und Pensions- und Rentenansprüche sowie Ansprüche auf "entsprechende" Fortbeschäftigung oder Wiederverwendung anzuerkennen sowie zu realisieren. Zur Krönung wurden unzählige NS-Täter mit Bundesverdienstkreuzen ausgestattet, mit weiteren Ehrungen bedacht und mit ehrendem (Ver-) Schweigen aus den "Verstrickungen" ihres Lebens verabschiedet.
Die feindseligen Kampagnen und herabsetzenden Deutungen, die unter der Formel vom "verordneten Antifaschismus" der DDR geführt wurden und Bestandteil der herrschenden Geschichtsschreibung geworden sind, galten von Anbeginn und entscheidend dem unbestreitbaren antifaschistischen Ursprung und der entsprechenden Grundlegung des anderen deutschen Staates. Diese Herkunft und Tradition, die für die Restauration in Westzonen und BRD im eigenen Herrschaftsbereich störend war und von Anbeginn diskiminiert wurde, war den tonangebenden Kräften stets fremd und suspekt. Darin wurzelt auch ein nie eingestandenes und bis heute fortwirkendes Ressentiment ob der fragwürdigen Erb- und Hinterlassenschaften der bürgerlichen Parteien seit 1914, 1933 und 1949. Es ist die Labilität und das Defizitäre ihrer geschichtlichen Legitimation im Verhältnis zum gesellschaftspolitischen Anspruch. Seit 1948/49 bildet die Verdrängung bzw. Relativierung der NS-Diktatur sowie ihrer verbrecherischen Natur und Bilanz den roten Faden der herrschenden Geschichtsideologie. Dazu soll die Verketzerung der DDR einen wesentlichen, obgleich eher indirekten Beitrag leisten.
Eine verdienstvolle Initiative der Erfurter Linkskoalition besteht darin, 2015 nach dem Beispiel der Bundesländer Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern den 8. Mai als Gedenktag in Thüringen eingeführt zu haben. Die Begründung des Antrages wies allerdings symptomatische Verbiegungen im Sinne vorherrschender geschichtsideologischer Einflüsse auf. Das Unbehagen der hiesigen Rechten an diesem überfälligen Schritt äußerte sich im Eifer der CDU, mit einem Gedenktag 17. Juni den gesetzten Akzent zu relativieren. Darauf hätte man mit Verweisen auf die riesige Kluft, die im historisch-politischen und moralischen Gewicht zwischen diesen beiden Daten - gar ihrem europäischen und weltgeschichtlichen Rang - besteht, reagieren sowie eine vorurteilslose gemeinsame Erörterung zur Einordnung und zu tatsächlichen Verläufen des 17. Juni vorschlagen können. Statt dessen verkündete Ministerpräsident Bodo Ramelow unverzüglich und beflissen seine Zustimmung. Man hätte eifernde Unionspolitiker an die zumindest zwiespältige Tradition der Gedenkpolitik ihrer Partei erinnern können, die zwar 1953 nach wenigen Wochen einen Feiertag 17. Juni beschloss, aber mehr als ein halbes Jahrhundert benötigte, um dem Drängen anderer Kräfte zugunsten eines Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus nachzugeben und sich den Schritten dazu nicht länger zu erweigern.
Am 23. Februar 2016 wurde in Erfurt der "Bericht der Landesregierung zu Stand und Weiterentwicklung der Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen für den Zeitraum März 2015 bis Februar 2016" veröffentlicht. Er wurde von der eigens für diese Geschichtsarbeit eingesetzten interministeriellen Arbeitsgruppe unter Leitung einer Staatssekretärin erarbeitet und spiegelt die oben skizzierten Grundtendenzen wider. Immerhin wird einleitend aus dem von der Landesregierung veranlassten Thüringen-Monitor (einer jährlichen repräsentativen Umfrage) von 2015 entnommen: "Die DDR ist nach wie vor ein prägendes Element für die Identität und die Alltagserfahrung vieler, auch der jüngeren Thüringerinnen und Thüringer, wie der Monitor 2015 ausweist." Im üblich gewordenen Jargon wird die darin "auffällig verbreitete DDR-Nostalgie und die retrospektive Sozialismusaffinität" angemerkt. Es existiere "in sämtlichen Befragungsgruppen eine ausgeprägte Tendenz zur positiven Einstellung gegenüber der DDR und zur Zufriedenheit mit dem Sozialismus 'so wie er in der DDR bestanden hat'". Nach dogmatischen Benotungen kommt die Folgerung, es gelte, "die verklärte Erinnerung an den Alltag der SED-Diktatur" mit "der historischen Wirklichkeit zu konfrontieren". Letzteres heißt, das Wissen und die Lebenserfahrungen von Millionen Ostdeutschen durch die herkömmlichen und nach 1990 ununterbrochen flächendeckend aufgelegten Deutungen und Etikettierungen altbundesdeutscher Provenienz zu ersetzen. Der scharfzüngige Ambrose Bierce (1842-1914) definierte solcher Art belehren als "seinem Nachbarn einen Irrtum aufdrängen, der anders und besser ist als jener, welchem anzuhangen er für förderlich gehalten hat."
Die Beteuerung eines nicht- oder unideologischen Herangehens wird in seiner tatsächlichen hochideologisierten Substanz und Diktion bemerkenswert illustriert - und dekuvriert - mit der Selbstverständlichkeit, in der über die bisherige und die geplante Zusammenarbeit mit der StiftungEttersberg für vergleichende Diktaturforschung in Europa berichtet wird. Diese Stiftung wurde vom damaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel (CDU) um 2000 mit tatkräftiger Hilfe der Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU ins Leben gerufen. Ihr Name ist insofern hochstaplerisch, als es den dort tonangebenden Rechtsintellektuellen und der CDU wie eh und je keineswegs um vergangene (oder neu erstehende) Rechtsdiktaturen in Europa geht. Das entscheidende Wirkungsfeld besteht in der Partnerschaft mit militant antikommunistischen - auch antirussischen - Kräften in baltischen, ost- und südosteuropäischen Ländern, und um entsprechende Geschichtsschreibung sowie Erinnerungs- und Gedenkpolitik. Dass die ebenso durchsichtigen wie unhaltbaren Attacken gegen Ideologie an sich selbst fortschrittsfeindliche Ursprünge und Funktionen haben, kann u. a. bei Erhard Eppler und Günter Gaus (beide SPD) treffend nachgelesen werden.
Schließlich sei darauf verwiesen, dass sich die hier kritisch kommentierten Tendenzen in der Geschichtspolitik von Linken, nicht zuletzt im offiziellen Erinnern und Gedenken, in Inkonsequenzen bei entsprechend begründeten oder abgeleiteten politischen Entschlüssen und Maßregeln niederschlagen. Sie erklären wesentlich, warum seit längerem menschen- und rechtsstaatswidrigen Positionen, Regelungen und Praktiken von Parteien, Politikern und Behörden nicht grundsätzlicher entgegengetreten wird. Obwohl inzwischen mehr als ein Vierteljahrhundert nach der staatlichen Vereinigung vergangen ist, dauern sie, verlängert und gelegentlich modifiziert, im Umgang mit größeren, aus der DDR stammenden Personengruppen an. International gültige Grundnormen wie Recht auf politischen Irrtum und Verjährung (letztere wird selbst auf schwere kriminelle Vergehen angewandt) werden jahrzehntelang ausgesetzt; es gilt vielfach ein Sonderrecht. Das betrifft Einrichtungen sowie politische und behördliche Handlungen wie die wiederholte und andauernde Verlängerung der Stasi-Überprüfungs- und Diskriminierungspraktiken, Suspendierung von Persönlichkeitsrechten, der Fortbestand der Stasi-Behörden einschließlich ihrer spezifischen Rechte sowie Erklärungen zur "Parlamentsunwürdigkeit" von Abgeordneten.
Unkritisch werden fragwürdige Alarmrufe bezüglich Lücken in Schulbüchern und politischer Bildung zur Geschichte und Vorgeschichte der DDR aufgegriffen und wiederholt, ohne naheliegende Fragen zu stellen. Dazu gehört, was tatsächlich an leidlich objektiver Darstellung fehlt und ergänzt werden müsste; was in der Darstellung lückenhaft, voreingenommen oder ausnahmsweise vielleicht auch beschönigend ist. Aber auch hier ist zu fragen: Wieso - wenn es von den Rechten seit Jahren und auch absehbar nicht erwartet werden kann - sieht sich die Linke nicht in der Pflicht, das seit langem in der einschlägigen Literatur und Bildungsarbeit Apologetische, Fehlende, Wahrheitswidrige zur deutschen Vergangenheit bis 1945 sowie zu Vorgeschichte und Geschichte der Bundesrepublik zu benennen und mit den eigenen Beiträgen und Forderungen nachzusetzen? Routinehaft wird von Schwarz bis Grün die angeblich mangelnde kritische Aufarbeitung der DDR durch Linke behauptet und angeklagt. Sachliche Analysen dessen, was dazu seit Anfang der 90er Jahre geleistet wurde, gibt es nicht und werden für jene Unterstellungen nicht für nötig gehalten, zumal die Medien überwiegend das Meiste unkritisch verbreiten, was sich gegen links oder gar besonders die DDR richtet. Bei längerer und genauer Beobachtung erweist sich, dass jene Kritiker ihre eigenen Ansichten sowie den mainstream der öffentlichen Meinungen als Maßstab für ihre Vorwürfe nehmen. Diese Erwartungen einer geistigen Selbstaufgabe sind von linker Seite aus Selbstachtung und zur Wahrung alternativer Grundorientierungen allerdings zu enttäuschen.
Angesichts der Unwissenheit oder Scheu mancher linker Politiker, erhebliche Defizite und Entstellungen der Unionsparteien und ihres Umfeldes sowie spendenfreudigen Hinterlandes bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Herkunft, Vergangenheit und Erbschaften endlich zur Sprache zu bringen, seien abschließend Anregungen und unterstützende Mitarbeit angeboten. Der unter der Regie von CDU/CSU und FDP keineswegs uneigennützig inszenierte und jahrzehntelang realisierte "Große Frieden mit den Tätern" (R. Giordano) harrt mit seinen Voraussetzungen, Akteuren und Auswirkungen weiterhin einer hinreichenden Aufarbeitung sowie öffentlichkeitswirksamen Darstellung. Die einschlägige Vorgeschichte seit 1914 und 1933 nicht minder. Dazu kommen die bis heute ausstehende Rehabilitierung und Wiedergutmachung für Opfer des Kalten Krieges und der Berufsverbotspolitik, Aufhebung der Verbote der KPD sowie weiterer linker Organisationen, Beendigung der Diskriminierung antifaschistischer und antimilitaristischer Vereinigungen und Initiativen. Die Liste ist zu vervollständigen. Für den umfangreichen Aufgabenkatalog können hilfreiche Quellen- und Literaturhinweise sowie Themen und Stichworte beigebracht werden. Es muss lediglich für das eine wie das andere die gebotene Einsicht sowie ein mit Courage gepaarter Wille vorhanden sein.