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Kanzler Kohls "geistig-moralische Wende" von 1982 - Beginn der neoliberalen Phase in der Geschichte der Bundesrepublik

In Auswertung der Diskussion vom 16. Juni 2012 überarbeiteter Vortrag von Jörg Roesler vor der Historischen Kommission anlässlich des 30. Jahrestages der neoliberalen Wende in der Bundesrepublik Deutschland

Am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Kohl von den Abgeordneten des Bundestages zum Kanzler gewählt. Eine Koalitionsregierung aus CDU/CSU und FDP beendete nach 13 Jahren die sozialliberale Ära unter den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt. Dem Sturz der Regierung Schmidt vorausgegangen waren ein Jahrzehnt mit vergleichsweise geringem Wirtschaftswachstum und zwei Wirtschaftskrisen (1974/75 und 1981/82) sowie das Ansteigen der jahresdurchschnittlichen Arbeitslosenrate von 1 bis 2 % in den 60er Jahren auf 4 bis 7 % im Zeitraum 1974 - 1982. Das gegenüber den 50er und 60er Jahren verringerte Wirtschaftswachstum und ein Anstieg der Inflation veranlassten Ökonomen und Politiker von Stagflation (Stagnation bei Inflation) zu sprechen. Die Stagflation signalisierte das Ende einer durch Massenfertigung gekennzeichneten Etappe der Technikentwicklung, die zu hohen ökonomischen Wachstumsraten geführt hatte, von der nicht nur Unternehmer, sondern auch Arbeiter und Angestellte profitierten. Man bezeichnet diese Periode rückblickend heute als Fordismus und spricht vom fordistischen Klassenkompromiss.

Kohl, der sich im März 1983 der Wahl stellte, versprach, nach Jahren des Preisanstieges und geringen Wachstums die Wirtschaft wieder anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Um das zu gewährleisten, bedürfe es einer "geistig-moralischen Wende": Die Bedeutung eines leistungsbereiten Unternehmertums für das wirtschaftliche Wohlergehen aller sei unter sozialdemokratischer Herrschaft unterschätzt, die staatlichen Sozialausgaben seien zu sehr ausgedehnt worden, was deren Missbrauch durch Leistungsunwillige begünstigt hätte. Den Unternehmern stellte Kohl der von ihm verkündeten Philosophie entsprechend Investitionsanreize, steuerliche Entlastungen und grundsätzlich verbesserte Ertragschancen in Aussicht, begleitet von einer "Atempause" in der Sozialpolitik.

Kohls Wirtschafts- und Sozialpolitik ordnet sich ein in die in den wichtigsten kapitalistischen Ländern Anfang der 80er Jahre zu verzeichnende, von konservativen Ökonomen wie Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek und Milton Friedman wirtschaftstheoretisch begründete "neoliberale Wende". Von "Thachterismus" und "Reagonomics" unterschied sich die "angebotsorientierte Wende" des deutschen Bundeskanzlers nicht prinzipiell, wohl aber hinsichtlich ihres Ausmaßes und des Tempos der Einführung aber auch der Verschleierung der wahren Absicht, d. h. der beabsichtigten Abkehr von den bisherigen staatlichen Regulierungsmaßnahmen in der bundesdeutschen Wirtschaft und sowie bezüglich der sozialen Konsequenzen der Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf die Bedürfnisse des Großkapitals, von Kohl verfälschend als "Mittelstand" bezeichnet.

Margareth Thachter hatte auf die Frage konservativer Parteikollegen, was sie denn in den Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft verändern wolle, kühn verkündet; "Alles". Ronald Reagan belehrte zu Beginn seiner Amtszeit die amerikanische Nation: "Der Staat ist nicht die Lösung, der Staat ist das Problem". Kohl dagegen forderte in seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 lediglich, den Staat auf seine "ursprünglichen und wirklichen Aufgaben" zurückführen. In diesem Sinne griff er auf Ludwig Erhard zurück und verlangte die "Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft". Erst in seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 wurde Kohl, gestärkt durch einen Sieg seiner CDU in den Bundestagswahlen, etwas deutlicher. "Wir wollen nicht mehr Staat, sondern weniger. Weg von kollektiven Lasten, hin zur persönlichen Leistung; weg von verkrusteten Strukturen hin zu mehr Beweglichkeit, Eigeninitiative und verstärkter Wettbewerbsfähigkeit".

Wenn die unternehmerfreundliche Politik Kohls im Unterschied zu der seiner angelsächsischen Berufskollegen in Worten und bis zu einem gewissen Grade auch in den Maßnahmen moderat blieb, dann hatte das zwei Ursachen: die relative Stärke der bundesdeutschen Gewerkschaften, die sich nach den unter der sozialliberalen Koalition 1972, 1976 und 1981 errungenen Verbesserungen in der Mitbestimmung gegenüber den Regierungsforderungen nach Sozialabbau kampfbereit zeigten und die unzweifelhafte Machtposition der Sozialausschüsse innerhalb der CDU (CDA), deren Exponent Norbert Blüm seit 1982 das Schlüsselministerium für Arbeit und Soziales leitete. Ungeachtet dessen gelang es Kohl, der 1987 wiedergewählt wurde, bis zum Ende der 80er Jahre eine Reihe von Steuersenkungen, die "die Wirtschaft" entlasten und fördern sollten, durchzusetzen, ebenso wie steuerliche Vergünstigungen bei Abschreibungen, Senkung der Vermögenssteuern, Erhöhung der vor allem die weniger Verdienenden treffenden Mehrwertsteuer sowie der Beiträge der Arbeitnehmer für die Rentenversicherung und für die Arbeitslosenversicherung. Unter der Losung "Flexibilisierung der Arbeit" erlangten befristete Arbeitsverträge und damit prekäre Beschäftigungsverhältnisse zunehmend Bedeutung. Leistungskürzungen gab es auch bei der beruflichen Rehabilitation und im Bereich der Ausbildung sowie in der gesetzlichen Krankenversicherung.

Die Gewerkschaften hatten ungeachtet der auf Verschleierung der wahren Absichten zielenden Rhetorik der Regierung den Charakter der Wende erkannt und der "Flexibilisierung der Arbeit" und dem Abbau des Sozialstaates keineswegs tatenlos zugesehen. Der DGB rief 1982 eine neue Offensive für die Mitbestimmung aus. 1984 streikten 400.000 Arbeitnehmer, soviel wie seit 1971 nicht mehr. Im Oktober 1985 veranstaltete der DGB eine bundesweite "Protestwoche" gegen die Politik der Regierung Kohl. Wachsende Konflikte mit den Gewerkschaften nahm die christlich-liberale Regierung jedoch in Kauf und fuhr fort, der Unternehmerschaft den Rücken zu stärken. So wurden 1984 138.000 Beschäftigte von Aussperrungen betroffen. Dieses Ausmaß der Kampfmaßnahmen der Arbeitgeberverbände war in den dreieinhalb Jahrzehnten zuvor erst dreimal erreicht bzw. übertroffen worden war. Die Kampfkraft der Gewerkschaften sollte sich im Verlaufe der 80er Jahre rasch infolge der hohen Arbeitslosenrate, die ungeachtet der Wahlversprechungen der sozialliberalen Koalition in den Jahren 1983 bis 1989 zwischen 5 % und 9 % lag sowie der strukturellen Veränderungen in der Industrie, der Bedeutungsabnahme von Zweigen wie der Eisen- und Stahlindustrie, in denen die Gewerkschaften traditionell stark waren zugunsten der Mikroelektronik etwa, verringern.

Die Schwächung der Gewerkschaften fand auch in der Lohnentwicklung ihren Niederschlag. Zwar erhöhten sich die Reallöhne zwischen 1982 und 1989 um 12 %, jedoch hatte ihr Anstieg zwischen 1972 und 1980 noch 17 % betragen - ungeachtet der in diese Zeit fallenden ersten schwereren Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik. Nicht nur als Tempoverlangsamung in der Reallohnentwicklung, sondern als tatsächliche Kehrtwende präsentierte sich die neoliberale Wende in der Entwicklung der Lohn- und Einkommensquote, deren Verlauf Aussagen darüber erlaubt, wie sich der Anteil von Lohnabhängigen einerseits und Unternehmens- bzw. Vermögensbesitzern andererseits am Gesamteinkommen der Nation (dem Volkseinkommen) entwickelt hat: War die Lohnquote. d. h. der Anteil der Lohnabhängigen am Volkseinkommen nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales - im Marxschen Sinne handelt es sich um den Relativlohn - nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zwischen 1972 und 1980 noch von 64,9 % auf 66,2 %, d. h. um 1,3 Prozentpunkte gestiegen, so sank sie zwischen 1982 und 1990 von 67,1 % auf 60,1 %. d. h. um 7,0 Prozentpunkte. Das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit hatte sich während der ersten drei Kabinette Kohl grundsätzlich zugunsten des Kapitals verändert.

Diese Entwicklung hatte ihre Ursachen nicht nur in der Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, sondern auch im Verhältnis Ost und West. Anfang der 80er Jahre offenbarte die internationale Schuldenkrise, von der auch die DDR und andere osteuropäischen Staaten betroffen wurden, eine Phase, in der die Sowjetunion für ihre Verbündeten keinen Rettungsschirm aufspannen konnte, die zunehmende wirtschaftliche Schwäche der DDR und der anderen Länder des Staatssozialismus. Es war die Bundesregierung, die mit zwei Krediten in Milliardenhöhe der DDR 1983 einen glimpflichen Ausweg aus der Schuldenkrise ermöglichte. Mit der zur Entschuldung eingeleiteten Politik des "Westexports um jeden Preis" hörte die DDR endgültig auf, ein Gegenmodell zur Bundesrepublik zu sein. Sie begab sich mehr und mehr unter die Fittiche ihres westlichen Nachbarn bis sie Ende der 80er Jahre - als sich substanzielle Reformen nicht mehr verwirklichen ließen - ihre Eigenständigkeit aufgab und sie sich mit der Bundesrepublik anschloss.

Die Vereinigung der Bundesrepublik mit einem Land, in dem der Staat die entscheidende Rolle in der Wirtschaft gespielt hatte und die er nach dem Willen der Bürgerbewegungen und SED-Reformer in bestimmten Maße auch beibehalten sollte, der Zusammenschluss mit einem Land mit ausgeprägt sozialstaatlicher Tradition und ohne erhebliche soziale Polarisierung hätte auf der Basis eines Kompromisses in Deutschland eigentlich eine erneute wirtschafts- und sozialpolitische Wende auf Kosten des Kapitals und zugunsten der Arbeitenden einleiten müssen. Doch die linken Kräfte in Ost und West verstanden es nicht, diese Chance zu nutzen, bzw., sie wurde, was z. B. den Grad der in den ersten Monaten 1990 im Osten erkämpften Mitbestimmung betraf, von den westdeutschen Gewerkschaften fast vollständig übersehen. Statt zu einer wirklichen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion kam also zum "Anschluss" der DDR an die Bundesrepublik. Damit wurde für den Osten Deutschlands nicht nur der 1989/90 in der Bundesrepublik erreichte und wie auch immer zu bewertende Stand im Verhältnis von Kapital und Arbeit, von Staats- und Marktregulierung, von öffentlichem und privatem Eigentum für den Osten bindend. Die Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik wurde von der Bundesregierung bewusst auch dazu benutzt, das Tempo der Privatisierung und Deregulierung in ganz Deutschland zu beschleunigen, im dem z. B. durch die Treuhandanstalt die (fast) totale Privatisierung vorexerziert wurde und in einem Drittel Deutschlands an Stelle der Mitbestimmung der Belegschaften in allen Unternehmensfragen, die sich dort zu entfalten begonnen hatte, die Diktatur der vom Bundesfinanzministerium beaufsichtigten Treuhandanstalt trat.

Die konsequent neoliberale Eigentums- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung in der Ex-DDR schwächte jene Kräfte im Westen weiter, die sich in den 80er Jahren - mit gewissem Erfolg - der Kohlschen Wirtschafts- und Sozialpolitik widersetzt hatten. Das betraf insbesondere die Gewerkschaften, die durch den fortgesetzten Anstieg der Arbeitslosigkeit (bis 2006 auf 12 %, in Ostdeutschland 2004 sogar auf 20 %) weiter geschwächt wurden, das betraf auch die SPD, die ihre guten Chancen, die CDU nach den Wahlen vom Dezember 1990 als Regierungspartei ablösen zu können, bedingt durch die Stimmengewinne der Konservativen in den neuen Bundesländern, nicht realisieren konnte, das betraf letztlich aber auch Blüms CDA, die (mit dem bemerkenswerten Ausnahme der 1995 eingeführten Pflegeversicherung) den neoliberalen Kurs der Kohl-Regierungen nicht mehr bremsen konnten. Erst 1998 wurde die CDU als wichtigste Partei einer Regierungskoalition bis zum Jahre 2005 durch die SPD abgelöst. In der SPD hatte sich inzwischen aber mit Gerhard Schröder eine Gruppe von Sozialdemokraten an die Spitze gesetzt, die im deutschen Sozialstaat ein Beschäftigungshindernis und ein Risiko für den "Wirtschaftsstandort Deutschland" sah.

Der nunmehr als angeblicher "dritter Weg" propagierte "aktivierende Sozialstaat" zielte im Grunde auf das Ende des bisherigen, aktiven Sozialstaats. Die linke Gegenkraft innerhalb der Sozialdemokratie, die mit Minister Oskar Lafontaine und seinen Staatssekretären im Finanzministerium eine starke Stellung - ähnlich der Blüms im Ministerium für Arbeit und Soziales unter Kanzler Kohl - zu halten glaubte, wurde bereits nach wenigen Monaten ausgebootet. Tonangebend in der Regierung wurden die Anhänger Schröders wie Hans Eichel, Peter Hartz und Wolfgang Clemens, die einen als "Politik der Neuen Mitte" verbrämten Neoliberalismus vertraten, so dass der Sozialabbau nunmehr mit der "Agenda 2010" ungebremst fortgesetzt werden konnte und nach der Ablösung der Schröder-Kabinette mit einer "großen" bzw. einer erneuten sozialliberalen Koalition unter der Kanzlerin Angela Merkel bis heute weiter verfolgt wird.

Zu den "Reformaßnahmen" von Kohl, Schröder und Merkel seit 1990 gehörten die Reduzierung des Arbeitslosengeldes und die Begrenzung der Bezugsdauer, schärfere Zumutbarkeitsregelungen für Sozialhilfeempfänger, die Streichung des Schüler-Bafög und die Umstellung des Bafög für Studierende auf Voll-Darlehen, die weitere Anhebung der Mehrwertsteuer, mehr Eigenbeteiligung und Selbstvorsorge in der Sozialversicherung, stärkere Beteiligung der Rentner an der Krankenversicherung, Anhebung der Altersgrenze sowie die fortgesetzte Privatisierung öffentlicher Aufgaben und Unternehmen, die Lockerung des Kündigungsschutzes und (seitens der Gewerkschaften) Verzicht auf die Weiterentwicklung der Mitbestimmung.

Im Ergebnis neoliberaler Politik stiegen zwischen 1991 und 2010 die Nettonominal- und Reallöhne nur noch minimal an. Beim Relativlohn setzte sich der Abwärtstrend fort: Nach Angaben des Deutschen Instituts der Wirtschaft, Köln, sank die Lohnquote zwischen 1991 und 2010 von 71,0 % auf 66,3 %, verglichen mit 75,8 % 1980. Zwischen 1950 und 1980 war sie von 62, 2 % auf 75,8 % angestiegen. An dieser aussagestarken Kennziffer gemessen, entpuppt sich die von Bundeskanzler Kohl im Oktober 1982 eingeleitete "geistig moralische Wende" als der Scheitelpunkt zwischen zwei Trends in der Geschichte der Bundesrepublik mit der das Verhältnis von Kapital und Arbeit langfristig und bis zum heutigen Tage andauernd zuungunsten der Arbeit verändert und die Errungenschaften der maßgeblich von Sozialdemokraten geprägten Periode der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Bundesrepublik (Mitte der 60er bis Mitte bzw. Ende der 70er Jahre) wieder rückgängig gemacht wurden.

Mit ihrer 1982 eingeleiteten "geistig-moralische Wende" verfolgte die Bundesregierung jedoch nicht nur eine Umverteilung des erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben, sondern auch den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und aus dem Sozialwesen, nicht aber aus seinen politischen Herrschaftsfunktionen wie innere Sicherheit und Expansion nach außen. Der Staatsverbrauch am Bruttoinlandsprodukt sank allerdings zwischen 1981 und 1988 lediglich von 20,7 % auf 20, 4 %. Sein Anteil blieb damit deutlich größer als in jenen Jahren da Ludwig Erhard Wirtschaftsminister war (16,6 % bis 18,7 %). In der Wirtschaft sollten entsprechend den Lehren der Neoklassik und des Monetarismus höhere Gewinne der Privatunternehmen zu mehr Investitionen, dadurch zu steigendem Wirtschaftswachstum und zu erneuter ökonomischer Prosperität und Stabilität führen. Zu Wirtschaftskrisen, wie sie die Bundesrepublik 1974/75 und 1981/82 erlebt hatte, würde es, wenn man auf die Selbstregulierung des Marktes vertraute, nicht mehr kommen.

Entsprechende Erwartungen, zeitweise von einem Großteil der Bevölkerung mitgetragen, sind früh enttäuscht worden. Zwar endete 1983 im ersten Amtsjahr der Regierung Kohl die laufende Wirtschaftskrise, doch ungeachtet der Beschwörung eines "kleinen Wirtschaftswunders" durch neoliberale Ökonomen und Politiker am Ende der 80er Jahre lag das durchschnittliche jährliche Wachstum des Bruttosozialprodukt im Zeitraum 1983 bis 1989 mit 2,3 % sogar noch knapp unter den 2,7 % des "Jahrzehnts der Stagflation und der Krisen" von 1971 bis 1980. In den beiden darauf folgenden Jahrzehnten wurde die Bundesrepublik dreimal von Wirtschaftskrisen heimgesucht, die jeweils zum Absinken des Bruttoinlandsprodukts führten. Die Rezession von 2009 erwies sich mit einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von 4,7 % als schwerste in der Geschichte der Bundesrepublik.

Wenn die mit der neoliberalen Wende verfolgten ökonomischen Stabilitäts- und Wachstumsziele nicht erreicht wurden, so hat das nach Auffassung linker Wirtschaftswissenschaftler ganz wesentlich mit der sich in den Reallöhnen widerspiegelnden ungünstigen Entwicklung der Massenkaufkraft und mit völlig unzureichender staatlicher Regulierung der Märkte zu tun. Das bedeutet, dass Kanzler Kohls Konzept der neoliberalen Wende ungeachtet dessen, dass sie die Kapitalakkumulation auf Kosten der Einkommen der Mehrheit der Bevölkerung begünstigte, und obwohl sie den (öffentlich immer wieder geleugneten) Sozialabbau betrieb, ungeachtet der Zeichen von Flexibilität bei der Krisenbekämpfung wirtschaftsstrategisch offensichtlich gescheitert ist.

Es bedarf für die künftige Entwicklung der Bundesrepublik zur Lösung der gegenwärtigen gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme einer erneuten Wende, von der zu erwarten ist, dass sie weg vom Neoliberalismus führen wird.

Wohin aber die Wende auf wirtschafts- und sozialpolitischem Gebiet konkret führen wird, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Dass dieser Wechsel systemimmanent bleiben wird, wie im Falle der beiden bisherigen wirtschaftsstrategischen Wenden in der Geschichte der Bundesrepublik, der neokeynesianischen von 1966/67, die nach Erhards Sturz möglich wurde, und der neoliberale von 1982/83, ist schon deshalb wahrscheinlich, weil es in der Geschichte des 20. Jahrhunderts keinen Fall gegeben hat, in dem eine Wirtschaftskrise und der sie begleitende soziale Niedergang zu einem Systemwechsel von Kapitalismus zum (Real-) Sozialismus geführt hat. (Derartige Systemwechsel, zeitlich begrenzt, wie wir nunmehr wissen, sind in Ländern wie Russland, den osteuropäischen Staaten, China, Vietnam und auf Kuba im Ergebnis von Krieg bzw. Bürgerkrieg erreicht worden). Darauf sollte sich die Linke strategisch und taktisch einstellen.

Dass man sich - ungeachtet aller Globalisierung - auch als einzelnes Land vom Neoliberalismus lossagen kann, haben nach Lateinamerikas neoliberalem Jahrzehnt (1990-2000) die Regierungen einer Reihe lateinamerikanischer Staaten bewiesen, die sich - wie etwa im Falle Brasiliens bzw. Argentiniens - unter dem Druck und mit Unterstützung der Linken auf die staatsinterventionistischen und sozialen Traditionen ihrer Länder besannen. Sie haben - das gilt besonders für Argentinien, das sich nach der schärfsten Wirtschaftskrise in seiner Geschichte vom Neoliberalismus lossagte - im vergangenen Jahrzehnt nicht nur ökonomisch und sozial wieder aufholen können; sie schneiden seitdem bezüglich ihrer wirtschaftlichen Wachstumsraten sogar besser ab als die bisher weiter am Neoliberalismus festhaltenden Länder Europas und Nordamerikas.