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Rapallo: Geglückt – gescheitert – aktuell

Beitrag von Dr. Stefan Bollinger für die 46. Tagung der Historischen Kommission

Am 16. April 1922, vor 100 Jahren schlossen Deutschland und Sowjetrussland einen ehrlichen Frieden mit Potential

1. Von der Kunst Frieden zu machen

Irgendwann gehen Kriege zu Ende, Feinde müssen sich an einen Tisch setzen und entscheiden, wie es weitergehen soll – als Zwischenstopp für den nächsten Schlagabtausch oder als Chance, dank gemeinsamer Interessen einen Neuanfang einer mehr oder minder freundschaftlichen oder doch zumindest geschäftsmäßigen Beziehung zu starten. Für Sieger wie Besiegte ein schwieriges Unterfangen. Einseitige Friedenswünsche funktionieren nur bedingt. Das gilt auch für diese Tage, wo Äußerungen eines außenpolitischen Sprechers einer noch nicht ganz unbedeutenden sich "links" nennenden Partei proklamiert: "Die russische Führung ist für mich restlos erledigt ... Ein Angriffskrieg mit Toten, mit Verletzten, mit Leid, mit zerstörten Wohnungen, Häusern ist so was von indiskutabel." Auch der Westen und die NATO hätten Fehler gemacht. "Nur gab es keinen einzigen Fehler, der den Krieg rechtfertigt. Damit hat sich Putin absolut ins Unrecht gesetzt." Jetzt sei nicht die Zeit, über die Fehler des Westens zu diskutieren. "Jetzt muss der Krieg gestoppt werden, so schnell und so nachhaltig wie möglich."[1] Nur, nach dem aktuellen Stand wird das mit der ungeliebten, verachteten Führung in Moskau geschehen müssen. Es sei denn, man ist Außenbeauftragter der EU wie Joseph Borell und twittert nach der Rückkehr vom Front?-Besuch in Kiew "This war will be won on the battlefield."[2] Dann braucht es vielleicht keinen Friedensvertrag mehr, vielleicht ist dann Frieden und Überleben in Europa ganz obsolet geworden.

Nach der Oktoberrevolution telegrafierte die neue Führung in Petrograd an die Arbeiter und die Regierungen der Welt, das Blutvergießen zu beenden, zu einem Waffenstillstand, gar einem Frieden zu kommen.

Die Verbündeten Russlands in der Entente lehnten dies rundweg ab, die Mittelmächte – also Berlin, Wien und Konstantinopel - waren bereit darauf einzugehen. In Brest-Litowsk trafen die Vertreter der Mittelmächte und Sowjetrusslands aufeinander.

Die Hoffnung auf einen gemeinsamen Friedensweg, wie ihn sich die Revolutionäre vorstellten blieb ihnen versagt. Da mochte Leo Trotzki, ihr Verhandlungsführer, so viel argumentieren wie er wollte, die Mittelmächte hatten klare Forderungen zur Zerschlagung des Westens des Russischen Reiches und materiellen Leistungen. Ein Diktatfrieden, der für die Sowjetrussen unannehmbar schien, die bestenfalls auf eine Situation "weder Krieg noch Frieden" setzte und nicht nur insgeheim auf die Revolution im Westen. Der Faustschlag des deutschen Oberbefehlshabers vor Ort zerstörte diese Illusionen, und der baldige massive Vormarsch der Deutschen und ihrer Verbündeten zwang schließlich Lenin gegen den Widerstand seiner Genossen diesem Raubfrieden zuzustimmen.

2. Wozu Erinnern gut sein könnte?

Ein Schlüssel für das Heute sind oft Konflikte der Vergangenheit. Für Sowjetunion und Russische Föderation sicher vor allem der Konflikt mit den USA, aber für uns naheliegender und seit Jahrzehnten in genau diesen Konflikt hineingezogen das Verhältnis Deutschlands zu seinem nahen großen Nachbarn im Osten. Dieses Verhältnis prägt das Verhalten beider Staaten, berührt ihre Gesellschaften.

Und doch gibt es in dieser Geschichte immer wieder Zäsuren, mit Möglichkeiten und Chancen, oft leichtfertig vertan. Es liegen Welten, Kriege wie gute Nachbarschaften zwischen einer Pyjama-Kabinettssitzung im Schlafzimmer des Reichskanzlers Joseph Wirth in Rapallo und dem trennenden gemeinsamen Tisch zwischen russischem Präsidenten und Bundeskanzler 2022. Beides könnte für gemeinsames Reden und gemeinsames Suchen nach friedlichen Lösungen stehen, für Verstehen und Akzeptieren  – oder für den Bruch.

3. Gemeinsamer Ausbruch aus der Isolation – die Interessenlage

Italien lud auf britischer Initiative im Frühjahr 1922 die einstigen Kriegsmächte zu einer Konferenz zur Gestaltung der wirtschaftlichen Nachkriegsordnung. Die Kriegsfolgen waren überall noch zu spüren, die Wirtschaften kriselten und es sollte ein Ausweg gefunden werden. Aber die Konferenz stand unter keinem so guten Stern. Die USA sagten ab, die Bereitschaft, sich zu gemeinsamen Vorgehen zu verpflichten hielt sich in Grenzen. Zudem waren zwei wenig wohlgelittene Staaten eingeladen – der eine vorgeblich alleiniger Kriegsschuldiger – der andere dank seiner Revolution eher Bedrohung als Partner. Es gab zwar Gespräche, aber keine greifbaren Lösungen. Wie so oft schieden sich die Geister am Geld: Deutschland sollte seine Reparationen zahlen, Sowjetrussland seine Schulden bei den einstigen Verbündeten im Kriege und zugleich für die revolutionären Enteignungen entschädigen.

Eigentlich sahen sich beide Staaten als Ausgrenzte, als Paria. Deutschland litt unter dem Versailler Vertrag und den drückende Reparationen, Teile des Landes standen unter Militärkontrolle der Sieger, im Osten etablierte sich der polnische Staat und dank erfolgreicher Aufstände in Schlesien gingen Gebiete verloren, die in Versailles so nicht abzutreten waren. Die Großmacht im Osten hatte sich gerade aus vier Jahren Bürger- und Interventionskriegen herausgehungert und herausgesiegt. Der Bürgerkrieg schien beendet, die Sowjetrepubliken an der Peripherie von Kiew bis in den Kaukasus würden in absehbarer Zeit wieder mit Russland, jetzt Sowjetrussland, vereint sein.

Nur, das Land lag wirtschaftlich am Boden, Lenin hatte zwar die NÖP politisch durchgesetzt, brauchte aber Handel, Investitionen, Know-how. Die Einladung nach Genua war für beide Staaten durchaus ein Erfolg an sich. Aber von Symbolpolitik wird niemand satt. Lenins Verhandlungsdirektive war unmissverständlich: "wir (begrüßen) Genua ... und (gehen) nach Genua ..., wir haben ausgezeichnet begriffen und durchaus kein Hehl daraus gemacht, daß wir als Kaufleute dorthin gehen, weil wir den Handel mit den kapitalistischen Ländern (solange sie noch nicht ganz zusammengebrochen sind) unbedingt brauchen, und daß wir zu dem Zweck dorthin gehen, um möglichst richtig und möglichst vorteilhaft die politisch angemessenen Bedingungen dieses Handels zu erörtern, und weiter nichts".[3]

Berlin und Moskau sahen sich enttäuscht, die Versprechungen an die Welt sollten für sie nichts bringen. Was tun, schmollen oder ein Befreiungsschlag? Da lag eine Verständigung der einstigen Kriegsgegner nahe. Das Deutsche Reich hatte 1914/18 erfolgreich gegen das Russische Reich gekämpft und wesentlich Anteil am Zerfall des Imperiums durch seine "Revolutionierungspolitik", die nicht nur Lenin in seinem plombierten Waggon bei der Rückkehr in das februarrevolutionäre Russland half. Die Bildung der neuen Staaten im Westen Russlands, also der baltischen Republiken und nicht zuletzt der Ukraine 1917/18 (ab April 1918 nach dem vom den Deutschen geförderten Putsch des früheren zaristischen Generals Pawlo Skoropadskyj), wesentlich alle unter deutscher bzw. österreichisch-ungarischer Besatzung und Einflussnahme, hatten zwar dem Zarismus den Rest gegeben, aber zugleich Sowjetrussland wesentlich geschwächt.

Die Mittelmächte hatten im Februar und März 1918 in Brest-Litowsk der sowjetrussischen (und gesondert der neuen ukrainischen) Führung Friedensbedingungen diktiert, die riesige Gebiete abtrennten und materiell den Osten zum Getreide- und Warenlieferanten degradierten, der ausgeblutet werden konnte. Zu allem Überdruss griffen deutsche Truppen und nach dem Waffenstillstand mit der Entente quasi als deren Handlanger dann deutsche Freikorps in den Bürgerkrieg um die Zukunft Russlands ein. Es waren blutige Kämpfe, die die Freikorps mit Gewalt und Terror durchfochten und sie zu Henkern der revolutionären Nachwehen des Novembers in Deutschland bis 1923 qualifizierten und später zur Speerspitze der Nazis.

Deutsch-russische Gespräche liefen bereits seit 1920, auch schon vor den Konferenzen in Italien wurden Entwürfe geschrieben und ausgetauscht. Historiker verweisen allerdings darauf, dass es in den deutschen Aktenüberlieferungen dazu wenig Spuren gibt. Das dürfte einerseits im Misstrauen innerhalb des Regierungslagers der Weimarer Koalition aus Zentrum, SPD und DDP gelegen haben, andererseits auch in Sorge, dass den rechten Parteien diese Weg suspekt sein könnte.

Wobei dies sicher nicht auf alle zutraf, da entsprechende Fühlungsnahmen aus Moskau schon 1920 stattfanden und sich früh Kontakte des Komintern-Emissärs Karl Radeks zu deutschen Industriellen und Militärs ergaben. Im Vorfeld von Rapallo wurden diese Kontakte aktiviert. Der sowjetrussischen Seite war klar, wie es ihr Chefdiplomat Adolf Joffe an Lenin schrieb: "In der bürgerlichen Welt findet im großen Maßstab ein Kampf zwischen Europa und Amerika um die Hegemonie in der Welt, und im kleinen Maßstab ein Kampf zwischen England und Frankreich um die Hegemonie in Europa statt. Unter diesen Bedingungen werden wir zur wählerischen Braut, um deren Hand alle anhalten. Und zu den wichtigsten Fragen zählt die, ob wir uns in Genua verheiraten, oder weiter eine solche Braut bleiben."[4]

Auch Radek, in Moskau als Deutschlandexperte anerkannt, setzte seine Kontakte fort, hatte Treffen mit Reichskanzler Wirth, seinem Außenminister Rathenau und dem Chef der Heeresleitung Generaloberst Hans von Seeckt. Aus letzteren Gespräch folgerte Radek: "Das Bewusstsein, Deutschland könne sich nur durch Annäherung an Russland aus seiner misslichen Lage befreien, wachse in allen Kreisen, unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Daran würden keine Zickzacks etwas ändern können, weder in unserer, noch in der deutschen Politik, und deswegen werde die von der VOGRU [d.h. Voennaja gruppa – Militärische Gruppe, also der Geheimstruktur der Reichswehr – St.B] begonnene Arbeit fortgesetzt."[5]

Hier dachten offensichtlich Militärs und Teile der Wirtschafts- und Politikeliten in der konkreten Situation weiter als andere.

4. Auf neuer, offizieller Basis

Seit 1918 war es die Hauptsorge der deutschen Regierungen, aber auch der siegreichen Ententemächte, den revolutionären Bazillus zu isolieren. Demokratische Reformen und das Ende des Kaiserreiches waren sinnvoll, auch soziale Zugeständnisse, aber der bolschewistische Bazillus sollte auf keinen Fall auf Deutschland und die anderen Mächte übergreifen.

Schnell war klar, dass das zwar zu bestrafende, aber doch offenbar treu zum Kapitalismus stehende Deutsche Reich auch unter seinen neuen Führern ein wichtiges Bollwerk gegen die Sowjetrussen sein musste. Immerhin hatte das Deutsche Reich eine radikale Linkswendung von Politik und Gesellschaft mit Gewalt niedergehalten.

Allerdings mussten Frankreich, Großbritannien, auch die USA, zur Kenntnis nehmen, dass die Deutschen nicht bereit waren, sich mit einer zweiten Geige in der Weltpolitik abzufinden und nur langfristig und in treuer Erfüllung der Versailler Auflagen sich zu bekehren. Während in Genua Verhandlungen über die weitere, vor allem wirtschaftliche Ausgestaltung der Nachkriegsordnung geführt wurden und die Deutschen sich faktisch ausgeschlossen sahen, hatten dessen Diplomaten längst mit dem anderen Paria der Weltpolitik, mit Sowjetrussland, Fühlung aufgenommen.

Der Rapallo-Vertrag stellte die 1918 während der Novemberrevolution vom mehrheitssozialdemokratischen, noch kaiserlichen Staatssekretär und baldigen Volksbeauftragten Philipp Scheidemann abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wieder her. Beide Seiten "verzichten gegenseitig auf den Ersatz ihrer Kriegskosten sowie auf den Ersatz der Kriegsschäden" (Art. 1), auf weitere Ansprüche aus den Kriegsfolgen und Enteignungen und eröffnen eine Perspektive für einen gedeihlichen Wirtschaftsaustausch. Dazu gehört vor allem das Gewähren der "Meistbegünstigung" für den jeweiligen Handelspartner.

Der Artikel 5 zeigte einen weiten Rahmen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf, denn die "beiden Regierungen werden den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geiste wechselseitig entgegenkommen ... Die Deutsche Regierung erklärt sich bereit, die ihr neuerdings mitgeteilten, von Privatfirmen beabsichtigten Vereinbarungen nach Möglichkeit zu unterstützen und ihre Durchführung zu erleichtern."[6]

Für Berlin war eine Einigung Sowjetrusslands mit den Westmächten in der Reparationsfrage vom Tisch. Für Moskau war das erreicht worden – zumindest in den Beziehungen mit Berlin -, was Lenin der Delegation für Genua mit den Weg gegeben hatte und was nun eingelöst wurde: "Eine wirkliche Gleichberechtigung der beiden Eigentumssysteme, wenigstens als vorläufiger Zustand, solange nicht die ganze Welt vom Privateigentum und dem ökonomischen Chaos und den Kriegen, die es erzeugt, zur höheren Form des Eigentums übergegangen ist, findet sich nur im Vertrag von Rapallo."[7]

In der Tat, es gelang einen Weg zu finden, um sich mit Sowjetrussland zu verständigen. Sebastian Haffner, der kritische liberale Publizist, schrieb später, dass das "Wort 'Rapallo' ... am Ostersonntag 1922 Europa wie ein Donnerschlag (erschütterte)". Hier hatten sich "ohne Warnung und ohne sichtbare Vorbereitung, Deutschland und Russland verständigt - und zwar mitten in einer europäischen Konferenz, mit der ganz anderes beabsichtigt war, hinter dem Rücken der westlichen Siegermächte des Ersten Weltkrieges und auf ihre Kosten".

Rapallo, so Haffner, sei "eine chiffrierte Kurzformel, die zweierlei bedeutet: Erstens, dass auch ein kommunistisches Russland und ein antikommunistisches Deutschland sich unter Umständen gegen den Westen zusammenfinden und zusammentun können; und zweitens, dass dies sehr plötzlich geschehen kann, buchstäblich über Nacht. Das ... hat das Wort 'Rapallo' zu einem Schreckenswort für westliche Ohren gemacht, dessen Schockwirkung noch heute nachzittert."[8]

Diese Verständigung, der Vertrag vom Rapallo vom 16. April 1922, wurde nicht nur zu einem Musterwerk "friedlicher Koexistenz", welche sich die sowjetische Politik in dieser Zeit als Strategie vorgenommen hatte. Die Wiederherstellung diplomatischer Beziehungen, die fortgeschriebenen Vereinbarungen über wirtschaftliche Zusammenarbeit und Handel[9], vor allem aber die teilweise schon zuvor getroffenen geheimen Absprachen zum Durchbrechen der militärischen Benachteiligungen Deutschlands zeigten beider Willen, als ernstzunehmende Akteure auf die weltpolitische Bühne zurückzukehren.

Diese Entwicklung wurde in den Folgejahren auch unter neuen Regierungen in Berlin fortgeschrieben, vor allem mit einem faktischen Freundschafts- und Neutralitätsvertrag vom 24. April 1926. Dies war trotz aller Widrigkeiten Basis für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit, die nicht wenigen deutschen Unternehmen auch in der Weltwirtschaftskrise sichere Märkte verschaffte. Auch wenn das faschistische Deutschland ab 1933 diese enge Bindung aus ideologischen Gründen spürbar reduzierte, die Kontakte und ihre deutschen Befürworter blieben erhalten. Sie waren dann auch ein Zugang zur überraschenden Kehrtwende am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, die zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 1939 und seinen Weiterungen führte.

Entgegen landläufiger Meinungsmache enthielt der Vertrag keine Geheimklauseln, die die militärische und rüstungstechnische Zusammenarbeit betrafen. Ob der Kanzler oder wer noch es wusste, es gab "nur" die vage im Artikel 5 angesprochene "von Privatfirmen beabsichtigten Vereinbarungen" zum Teil längst.

In der deutschen Öffentlichkeit wurde der überraschende Vertrag fast einhellig begrüßt. Es hatte dennoch in Rapallo Überzeugungsarbeit bedurft, um den Reichsaußenminister Walther Rathenau (DDP) zu gewinnen und die SPD, vor allem ihr Reichspräsident Ebert, waren als revolutionsphobe Politiker mehr als skeptisch, akzeptierten aber den Schritt.

Auch wenn in der weiteren Geschichte, besonders nach 1945 im westlichen Deutschland über Rapallo gestritten wurde, waren deren Vorbehalte doch stets präsent. Es wurde vor allem der deutsche "Alleingang" kritisiert, ohne Konsultation mit den Westmächten – und zu deren Lasten eine Reparationsverständigung mit der RSFSR und für eine eigenständige deutsche Außenpolitik gemacht zu haben. Noch kurz vor dem aktuellen Ukraine-Krieg warnte Heinrich August Winkler, der SPD nahestehender Historiker, in der FAZ: "Nie wieder darf Deutschland den Eindruck erwecken, als strebe es, wie schon mehrfach in seiner Geschichte, eine Verständigung mit Russland auf Kosten Dritter an."[10] Heute erleben wir, dass eine ganze Phalanx von "Putinverstehern" und einst einsichtigen Politiker – von Steinmeier bis Schwesig – aus Überzeugung oder unter Druck zum Abschwören gebracht werden.

Übrigens - der Reichstag hat erst sechs Wochen nach der Vertragsunterzeichnung am 29./30. Mai 1922 diskutiert. Eingerahmt war diese Debatte von anderen brennenden Problemen des Reiches, so den Verlust Nordschleswigs an Dänemark und der Zukunft der ostschlesischen Gebiete nach polnischen Aufständen und einer Entscheidung des Völkerbundes, einige Gebiete trotz anders gelaufener Volksabstimmungen zu teilen und Ostoberschlesien Polen zuzuschlagen. Deutschland verlor seine Schwerindustrie im Osten, Kattowitz. Genau zwei Wochen vor der Debatte hatten Deutschland und Polen ein Abkommen über Oberschlesien (Genfer Vertrag vom 15. Mai 1922) abgeschlossen, um die ausstehenden Fragen in den Beziehungen beider Staaten nach den Gebietsabtretungen und die Frage der jeweiligen Minderheiten zu regeln. Trotzdem, so der Kanzler, "das Verhältnis zur Ostwelt"[11] blieb in Genua ungeregelt und Brandsatz für einen künftigen Krieg.

Die Hoffnungen auf die Genua-Konferenz waren hoch gewesen, sollte es doch um eine Verbesserung der Reparationslage für Deutschland gehen. Entsprechend konzentrierte sich die Regierungserklärung von Reichskanzler Joseph Wirth, studierter Ökonom und Zentrums-Politiker, seit Mai 1921 im Amt, auf die Darstellung des aus deutscher Sicht letztlichen Scheiterns der Verhandlungen am – entgegen dem ursprünglichen Anspruch der Konferenz – nationalistisch-egoistischen Verhalten insbesondere Frankreichs. Um die Fragen der Reparationen drehten sich dann auch die meisten Wortmeldungen der Parlamentarier. Natürlich war Wirth nach den Jahren des Ausgrenzens Deutschlands als alleinigen Kriegsschuldigen stolz feststellen zu können, dass Deutschland zumindest "nach außen gesehen, als gleichberechtigte Macht auf der Genuakonferenz" erscheinen durfte, wobei ihm und dem Hohen Haus die Relativität dieser Gleichberechtigung bewusst war.[12]

Umso wichtiger war der Vertragsabschluss mit der RSFSR. Für Wirth war dieser Vertrag "im gewissen Sinne ein vorbildlicher Friedens-Vertrag. In diesem Friedensvertrag gibt es weder Besiegte, noch gibt es Sieger. Es ist die vollkommene Liquidierung der aus dem Kriegszustand herrührenden gegenseitigen Forderungen. Unverständlich ist deshalb die Aufregung, die sich gerade an diesen Vertrag geknüpft hat, und noch unverständlicher ist die Deutung dieses Vertrages als eines kriegerischen Faktors in Europa. Wer hat denn Anlaß zu diesem Vertrag gegeben, den wir pflichtmäßig geschlossen haben? Das ist die Entente selbst."[13] Auch wenn Selbstkritik des Kanzlers zum Raubfrieden von Brest-Litowsk ausfiel, so anerkannte er doch dessen Aufhebung durch den Versailler Vertrag, also die Siegermächte, und begriff die nunmehrige Lösung als ein Musterbeispiel für einen Frieden – was sich klar gegen die repressiven Momente von Versailles richtete.

5. Ein Exkurs – Frieden ist nicht gleich Frieden

Und auch das sei mit Blick auf die aktuelle Situation angemerkt: Friedensverträge fielen in der Geschichte unterschiedlich aus. Meist blieb die Erfahrung des Westfälischen Friedens respektive des damaligen Friedenswerkes von 1648 außen vor: Gleichberechtigt und ohne Groll und mit Perspektive das künftig – zumindest auf Zeit – friedliche Zusammenleben zu organisieren und zu kodifizieren.

Zu oft überwog der Wille, den Feind zu demütigen, ihm die Kriegskosten in Gestalt von Reparationen abzupressen und ihn im eigenen Interesse auch territorial zu dezimieren.

Erinnert sei an den Friede von Frankfurt 1871 mit Frankreich. Noch verheerender wirkten die für Deutschland relevanten Friedensschlüsse von Brest-Litowsk 1918 – aus der Position der Stärke und des Überlegenheitsgefühls gegen die bolschewistischen Machteroberer im Osten – und der Versailler Frieden von 1919. Auch hier überwog der Gedanke der Abrechnung und der Rache, trotz manch guter Ideen – wie dem Völkerbund – blieb für die Verlierer dieses Krieges – Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien vor allem – nur die Schmach, die Zuordnung der Alleinverantwortung, Macht- und Militärbeschränkungen, Gebietsabtrennungen, Reparationen. Es war keine Friedensordnung und keine (Wieder-)Aufnahme in die Weltgemeinschaft, sondern Ausgangspunkt für Nationalismus und Revanchismus. Die Korrekturen von Locarno 1925, das Abdrängen Deutschlands gegen den Osten – Polen, die Sowjetunion - kompensierten das nicht, auch nicht die erheblichen, aber späten Zugeständnisse in der Reparationsfrage. Vielmehr bekam der deutsche Faschismus sein Dauerthema über Parteigrenzen hinweg gegen den "Schmach und das Diktat von Versailles".

Und auch die seltsamen Friedensregelungen nach der deutschen und seiner Verbündeten Niederlage 1945– nach einem weit brutaleren, nun völkermordenden Krieg als 1914/18 – waren und sind nicht angetan, als Musterbeispiele eines friedensfördernden Friedens durchzugehen- zumal dieser Friedensvertrag für Deutschland immer noch fehlt und die Zwei-plus-Vier-Vertrag (Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland) und die "Charta von Paris" von 1990 letztlich Fragen offen ließen, die heute jene Konflikte begünstigen, die um die imperialistische Neuaufteilung der Welt, wenn wir es mit Lenin versuchen, geführt werden – und den Sieger von 1945, die Sowjetunion in Gestalt der Russischen Föderation und ihrer Nachfolgestaaten zu Aussätzigen macht, dem sich Moskau mit aller Gewalt entgegenstemmt.

6. Dunkle Seiten von Rapallo?

Bereits vor dem Rapallo-Vertrag stellten geheime Übereinkünfte mit Wirtschaft und Reichswehr Weichen für eine militärische und militärtechnische Zusammenarbeit. Das deutsche Militär, weltkriegserfahren und inzwischen auch beschlagen im Kampf gegen die Spartakisten, sah ebenso wenig wie die Rote Armee ein Problem darin, die Isolation von der Welt durch eigene Rüstungsprojekte für eine moderne Panzer- und Luftwaffe und selbst für chemische Waffen zu durchbrechen. Sie wollten voneinander lernen, Embargos und Verbote umgehen und waren sich doch sicher, irgendwann wieder gegeneinander zu kämpfen. Im Augenblick ging es aber um das Umgehen der Versailler Restriktionen und um einen gemeinsamen Feind, das wiedererstandene Polen, das sich gegen Sowjetrussland und Deutschland durchzusetzen suchte und beiden Staaten erhebliche Nachteile beibrachte. Bei Radeks Verhandlungen mit General von Seeckt sprang der auf, "seine Augen funkelten wie bei einem Tier, und er sagte: Es [Polen] muss zerschmettert werden, und es wird zerschmettert, sobald Russland und Deutschland erstarkt sind."[14]

Anzumerken bleibt, dass diese Zusammenarbeit, die heute gerne verteufelt wird und schon damals insbesondere durch die Sozialdemokratie angefeindet wurde, keineswegs so gradlinig und vertragstreu verlief wie versprochen. Natürlich hatten weder Berlin noch Moskau vergessen, dass sie klassenmäßig Todfeinde waren. Ob immer abgestimmt im eigenen Lager oder nicht, der Untergrundkampf gegen das jeweils andere feindliche System lief weiter. Am spektakulärsten war der Versuch, 1923 einen "deutschen Oktober" zu inszenieren. Das bedeutete unmittelbare sowjetische Einmischung in den deutschen Klassenkampf und ebenso scharfe Reaktionen. Das bedeutete aber auch das Verstricken deutscher Stellen in Geheimdienst- und Wirtschaftssabotageoperationen gegen die Sowjetunion. Man schenkte sich auch in Zeiten der offiziellen wie verdeckten Zusammenarbeit wenig. 1927 z.B. waren deutsche Militärs und Geheimdienstler einträchtig mit britischen, niederländischen Diensten und antisowjetischen Oppositionellen in einen Versuch verstrickt, die Sowjetunion mittels gefälschter Banknoten zu Fall zu bringen, in der sogenannten "Tscherwonzenaffäre".

Für die westlichen Mächte war Rapallo ein Signal, die konkrete Politik gegenüber Deutschland mittelfristig zu überprüfen. Die besonders von Frankreich getragene Politik des Niederhaltens Deutschlands erschien nicht zuletzt aus klassenpolitischer Sorge um ein Ausdehnen des kommunistischen Einflusses kontraproduktiv. Das Deutsche Reich konnte nicht auf Dauer abgeschrieben werden. Zur Not müsste auch eine Verständigung mit konservativ-reaktionären Kräften zu finden sein.

Das war auch das Kalkül der politischen Führer der Weimarer Republik, denen die notgedrungen erfolgte Anlehnung an die Sowjetunion trotz der unübersehbaren ökonomischen und der geheim gehaltenen militärischen Vorzüge gegen den Strich ging. Lavieren zwischen der in ihrer Situation interessanten Großmacht im Osten mit gewichtigen ökonomischen und militärischen Ressourcen einerseits, andererseits mit dem ideologisch und ordnungspolitisch nahestehenden, vor allem antikommunistischen Westen. Das war damals in Deutschland wichtigen Teilen der politischen und wirtschaftlichen Eliten klar, das wussten auch durchblickende Intellektuelle. Sie hatten zum Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland, Österreich, in weiteren Teilen Europas, Nordafrikas, Lateinamerikas revolutionäre Erschütterungen erlebt. Das sowjetrussische Beispiel vermochte zu inspirieren und soziale Kämpfe zu befeuern.

Ihr Klasseninstinkt hinsichtlich der Zweischneidigkeit einer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion war hundertprozentig berechtigt. Sie nahmen, wie gesagt, zur Kenntnis, dass die Sowjetunion durchaus die Politik der kommunistischen Parteien, also auch der KPD, unter den Vorbehalt der sowjetischen Interessen stellte. Aber das bedeutete nicht das Ende der Klassenkonflikte im Deutschen Reich, die zwar seit 1924 Dank der relativen Stabilisierung der kapitalistischen Wirtschaft und der Gesellschaft nicht wieder in revolutionäre und bürgerkriegsähnliche Formen abglitten, die aber unverändert vorhanden waren. Kommunisten blieben die radikalsten Kritiker des Kapitalismus und unüberhörbar einflussgewinnende Konkurrenten der Sozialdemokratie.

Unter diesen Voraussetzungen waren die Signale, die von Großbritannien, Frankreich, den USA ausgingen, das Deutsche Reich wieder fest in ein westliches, d.h. kapitalistisches System auch der politischen Zusammenarbeit einzubeziehen, nicht zu überhören. Die unmittelbaren Konflikte um die Erfüllung der finanziellen und materiellen Verpflichtungen des Versailler Vertrages waren bis 1923/24 abgeklungen. Mit dem Dawes-Abkommen 1924, von Washington inspiriert, waren die Reparationsforderungen der Siegermächte erträglicher gestaltet worden. Es blieben zwar die 132 Milliarden Goldmark Forderungen, aber der Druck zu ihrer Begleichung wurde deutlich gemildert. Nicht zuletzt hatte die Stabilisierung der politischen Verhältnisse im Osten, in Polen und den baltischen Staaten, dazu beigetragen, dass die Auseinandersetzungen und Aufstände um abzutretende Gebiete abgeflaut waren. Insbesondere die USA suchten in dieser Phase der wirtschaftlichen Stabilisierung Deutschlands, durchaus in Konkurrenz mit Frankreich, ihren wirtschaftlichen Einfluss auszubauen.

Mit den Locarno-Verträgen 1925 erhielt Deutschland endlich die Weihen eines (fast) normalen Mitglieds der westlichen Staatengemeinschaft – nur die Ostgrenzen des Reiches blieben außen vor. Bei allem Spiel um die machtpolitischen Konstellationen, Deutschland und seine Eliten blieben konservativ, kapitalistisch, hingen noch den alten Großmachträumen nach und suchten vor allem eines: Die Chance zur Revision von Versailles und die Wiederherstellung einer Vormachtrolle in der Mitte Europas und für Europa. Vielleicht waren momentan andere Schwerpunkte zu setzen, welche Mittel dafür probat waren. Wenn es gelänge, die schlimmsten Lasten der Reparationen und Produktionsbeschränkungen zu lockern, zu vertagen oder gar abzuschütteln, würden die deutschen Spielräume größer.

7. Eine Zäsur ohne Vertrag – vom Versagen Deutschlands und Russlands

Vor diesem geschichtlichen Hintergrund hätte die Welt 100 Jahre danach mehr erwarten können als die Eskalationsschraube, die nun zum Ukraine-Krieg – und hoffentlich nicht zu mehr führt. Verständnis für die gegenseitigen Interessenlagen, das Relativieren und die Preisgabe eigener Positionen, Zugeständnisse zumindest auf Zeit wären der Geist von Rapallo ebenso wie der Geist der "Neuen Ostpolitik" Willy Brandts der 1960/70er Jahre. Das war die von Winkler kritisierte "Schaukelpolitik", die beiden Seiten Vorteile bringen konnte. Und genau sie wird angegriffen, egal, ob von Wirth, Brandt oder Egon Bahr betrieben. Reichskanzler Wirth hatte die Prämissen damals gesetzt: einen "Strich unter die Vergangenheit" zu ziehen und vor allem – zumindest auf der Ebene der offenen politischen und militärischen Bemühungen, das "Nichteinmischen in die inneren parteipolitischen und sozialen Verhältnisse eines anderen Landes".[15]

Anmerkungen

[1] Gysi: "Russische Führung für mich restlos erledigt". In: Tagesschau 12.4.2022 13:10 Uhr - www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-dienstag-115.html -.

[2] Joseph Borell: 9. Apr. 2022 3:04 nachm.- twitter.com/JosepBorrellF/status/1512778418445860864 -

[3] Wladimir Iljitsch Lenin: Über die internationale und die innere Lage der Sowjetrepublik. Rede in der Sitzung der kommunistischen Fraktion des Gesamtrussischen Verbandstages der Metallarbeiter. 6. März 1922. In: ders.: Werke. Bd. 33. Berlin 1973, S. 198.

[4] Dok. 60. Sowjetrussland als "begehrte Braut": Brief Ioffes an Lenin im Vorfeld der Konferenz von Genua. Petrograd, 13.2.1922. In: Hermann Weber/Jakov Drabkin/Bernhard H. Bayerlein (Hrsg.): Deutschland, Russland, Komintern - II. Dokumente (1918–1943). Teilband 1. Berlin-München-Boston 2015, S. 223.

[5] Dok. 59. Geheimer Bericht Radeks über die Gespräche mit Außenminister Rathenau und General von Seeckt zur militärischen Zusammenarbeit mit Russland. Berlin, 11.2.1922. In: Ebd., S. 218.

[6] Siehe Der deutsch-russische Vertrag (Rapallo-Vertrag), 16. April 1922. In: 100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte (1917-1991). Erlangen - 1000dok.digitale-sammlungen.de/dok_0017_rap.pdf - [03.03.2019 21:57].

[7] Wladimir Iljitsch Lenin: Entwurf einer Entschließung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees zum Bericht der Delegation auf der Genuakonferenz. In: A.a.O., S. 343.

[8] Sebastian Haffner: Der Teufelspakt. Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg. Zürich 1988, S. 92.

[9] Bereits im Vorjahr war ein deutsch-sowjetrussisches Handelsabkommen unterzeichnet worden und eine sowjetrussische Handelsvertretung fungierte faktisch als diplomatische Repräsentanz in Berlin.

[10] Heinrich August Winkler: Der falsche Charme der Schaukelpolitik. FAZ vom 11.02.2022 15:55 -https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/deutsch-russische-beziehungen-der-falsche-charme-der-schaukelpolitik-17775958.html (10.03.2022 21:11].

[11] Dr. Wirth. a.a.O., S. 7676.

[12] Ebd., S. 7674.

[13] Ebd., S. 7675.

[14] Dok. 59. Geheimer Bericht Radeks über die Gespräche mit Außenminister Rathenau und General von Seeckt. A.a.O., S. 218.

[15] Dr. Wirth. a.a.O., S. 7676.