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Rechtsextremismus. Zu Aspekten eines historischen und aktuellen Problems

Vortrag von Prof. Jürgen Hofmann vor dem Bundesausschuss der Partei DIE LINKE

Wenn wir die Anfänge rechtsextremer Bewegungen in Europa Revue passieren lassen, schält sich vor allem der 1. Weltkrieg, seine Vorgeschichte und seine traumatischen Nachwirkungen als Hintergrund für die Entstehung des Rechtsextremismus heraus. Tiefgreifende soziale Veränderungen und damit einhergehenden Verunsicherungen am Übergang zum 20. Jahrhundert sowie der Zivilisationsbruch, den dieser Krieg darstellte, bildeten die historische Gemengelage, die Konstituierung, Aufstieg und Masseneinfluss rechtsextremer Bewegungen begünstigte. Ein direkter Vergleich historischer Situationen mit der Gegenwart verbietet sich sicherlich. Dennoch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die mit der Globalisierung einhergehenden Umbrüche, sozialen Verwerfungen und die um sich greifende Orientierungslosigkeit offensichtlich erneut günstigen Nährboden für rechtsextreme Demagogie hergeben. Rechtsextreme Ideologien und Organisationen instrumentalisieren in Krisen und Umbruchsituationen soziale Unzufriedenheit von Unterschichten und Abstiegsängste von Mittelschichten.

Rechtsextremismus umfasst ein breites Spektrum von Ideologien und Organisationen, die ideell und personell bis in das rechtskonservative Parteienspektrum hineinwirken. Grauzonen zum rechtskonservativen Milieu erschweren oft die Zuordnung. Wesentlich deutlicher zeigen sich die Konturen bei rechtsextremistischen Bewegungen faschistischen Typs. Deshalb sollte auf den Sammelbegriff des Faschismus in der Rechtsextremismus-Debatte nicht verzichtet werden. Obwohl nicht der namensgebende Prototyp, der italienische Faschismus, zum Inbegriff dieser Strömung und Herrschaftspraxis in der Geschichte wurde, sondern der deutsche Nationalsozialismus, gibt es keinen Grund über die Unterschiede die Gemeinsamkeiten dieser Spielarten des Rechtsextremismus zu übersehen. Das gilt auch für die Nachahmerbewegungen und Nachahmerregime, die meist unter dem Begriff "pro-faschistisch" gefasst werden. Ideologien, Bewegungen und Regime faschistischen Typs bilden faktisch den Kernbereich des Rechtsextremismus. Es ist aber auch nicht zweckmäßig, Rechtsextremismus auf seine faschistische Variante einzugrenzen. Damit würden viele Spielarten des Rechtsextremismus aus der Betrachtung herausfallen.[1]

Auch wenn sich faschistische Bewegungen als "Arbeiterpartei" bezeichneten und einige Führungspersönlichkeiten der Bewegung, wie z. B. Mussolini oder Pilsudzki, zuvor eine Karriere in der Arbeiterbewegung durchliefen, sind sie keineswegs als deren Abspaltung zu fassen. Die 1919 in München gegründete Deutsche Arbeiterpartei, der Vorläufer der NSDAP, war von Beginn an völkisch-nationalistisch orientiert. Anton Drexler, ein Werkzeugschlosser, wurde durch Mitgliedschaften und Funktionen im Alldeutschen Verband und in der Deutschen Vaterlandspartei politisch sozialisiert, deren Spitzen eine Militärdiktatur zur Sicherung der Kriegsziele vorschwebte. Drexler wollte die Arbeiterschaft stärker " 'deutschen Interessen' zugänglich ... machen".[2]

Bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich in Russland in Reaktion auf die Revolution von 1905 der Bund des Russischen Volkes (SRN) formiert, der einen autoritären Monarchismus mit rechtsextremer Tendenz anstrebte. Auf sein Konto ging im Oktober 1905 der Mord an 300 Juden in Odessa. Die Beispiele für das Aufkommen von rechtsextremen Organisationen als Gegenbewegungen zu vermuteten oder tatsächlichen revolutionären Gefahren ließen sich problemlos fortsetzen. Auch die Verquickung mit ultranationalistischen und ultramonarchistischen Vorläufern ist in Europa offensichtlich. In Österreich entsteht 1919/1920 als Antwort auf die Revolutionsereignisse die nationalistisch und antimarxistisch ausgerichtete paramilitärische Heimwehr. Sie findet vor allem in Kleinstädten und auf dem Land ihre soziale Basis. In Ungarn stehen Admiral Horthy und die Szegeder Faschisten für die rechtsextreme, in der Offizierskaste verwurzelte Bewegung gegen die 1919 gestürzte sozialistische Rätemacht. In der Tschechoslowakei formierte sich 1926, inspiriert vom italienischen Faschismus, die Nationalfaschistische Gemeinschaft (NOF) unter General Rudolf Gajda. Eines ihrer Hauptziele war die Vernichtung des Sowjetkommunismus.

Rechtsextreme Bewegungen konnten in ihrer Entstehungsphase auf reaktionäre, konservative und nationalistische Ideologien und deren Strukturen zurückgreifen, die bereits seit längerem verbreitet waren. Nationalismus, Rassismus, Kolonialismus, Sozialdarwinismus, Autoritarismus und Militarismus boten hinreichend Quellen für rechtsextreme Weltbilder, die zugleich Herrschaftsentwürfe bzw. Herrschaftspraktiken zum Ausdruck brachten. Sie bilden noch heute die Schlüsselideologien des Rechtsextremismus. Auffällig ist ebenfalls, dass die Versatzstücke, aus denen sich Rechtsextremismus bediente, sich nicht auf deutsche oder italienische Geistesgeschichte eingrenzen lassen. Die Legion des Erzengels Gabriel in Rumänien ist dafür ein markantes Beispiel. In den USA und in Südafrika bildete militanter Rassismus den Hintergrund für rechtsextremistische Geheimbünde und Organisationen wie den 1865 gegründeten Ku-Klux-Klan bzw. den Grauhemden, die sich 1949 als "Weiße Arbeiterpartei" deklarierten. In Japan prägten Ultranationalismus, Militarismus und expansive Ambitionen in Verbindung mit einem traditionell autoritär ausgerichteten Gesellschaftssystem die faschistoide Entwicklungsphase vor 1945.

Neben den in das Alltagsdenken eingegangenen nationalistischen, rassistischen, militaristischen und autoritären Orientierungsmustern, aus deren Konglomerat sich rechtsextreme Wortführer bedienen konnten, spielten pseudosozialistische Demagogie und rassistisch bzw. nationalistisch kanalisierte Kapitalismuskritik eine besondere Rolle. Der Missbrauch von Begriffen und die Verfälschung von Zielen der traditionellen Arbeiterbewegung war beabsichtigt. Ohne Resonanz in der Arbeiterschaft, war Massenmobilisierung nicht möglich. Im Unterschied zu elitären rechtskonservativen oder monarchistischen Zirkeln zielten rechtsextreme Bewegungen auf Massenmobilisierung. Adolf Hitler hatte bereits 1919 die Masse als "Quelle aller Kraft" bezeichnet. "Diese breite, sture Masse, die vernarrt und verbohrt für den Marxismus kämpft, ist die einzige Waffe für die Bewegung, die den Marxismus brechen will"[3], ließ er ein ausgewähltes Hamburger Publikum wissen.

An die Stelle tatsächlicher, in sozialen und politischen Herrschaftsverhältnissen begründeter Ursachen treten "Sündenböcke", deren Ausgrenzung und Bekämpfung die angebliche Lösung verspricht. Hinter Rechtspopulismus und sozialer Demagogie konnten expansionistische Ziele verborgen bzw. territoriale Expansion gar als Lösung für soziale Probleme deklariert werden (Behauptung vom fehlenden Lebensraum etc.).

Als konstitutiver Bestandteil des europäischen Rechtsextremismus muss der Antisemitismus hervorgehoben werden. Er war in unterschiedlichen Ausprägungen charakteristisch für rechtsextreme Bewegungen und Regime. Die Politik der Diskriminierung und Vernichtung von Juden konnte auf über Jahrhunderte tradierte antisemitische Denkmuster bauen. Gegenwärtig treten gezielt geschürte und instrumentalisierte Islamängste an diese Stelle. Antiislamismus wird zum Kern rechtsextremistischer Mobilisierungsstrategien.

Das wird besonders deutlich an der seit 2014 in Dresden aktiven PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Ableger unter verschiedenen Namen wurde auch in anderen Städten und Bundesländern aktiv. Der Rückgriff auf Symbole rechtsextremer und faschistischer Organisationen und Bewegungen aus dem Zeitraum zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg ist offensichtlich. Ebenso der Rückgriff auf völkisch-nationalistisches Vokabular.

Rechtsextremismus ist eine internationale Erscheinung. Dies gilt für den historischen Rückblick wie für den aktuellen Befund. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stoßen wir in der Mehrzahl der europäischen Länder und auch auf anderen Kontinenten auf Bewegungen und Regime, die wichtige Merkmale des Rechtsextremismus erfüllen. So lassen sich neben Deutschland und Italien auch in Belgien, Estland, Frankreich, Jugoslawien, Lettland, Litauen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Spanien und Ungarn signifikante rechtsextreme Bewegungen nachweisen. Doch auch in Bulgarien, Griechenland, Großbritannien, Finnland, Norwegen, den Niederlanden, der Tschechoslowakei tauchen rechtsextreme, teilweise sogar offen faschistische Parteien und Bewegungen auf. In Südafrika wären die Grauhemden und die Ochsenkarrenwacht in diese Kategorien einzuordnen. Für die USA muss der Ku-Klux-Klan, der in den 1920er Jahren zeitweise fast 9 Millionen Mitglieder zählte, in diese Reihe gestellt werden. In Lateinamerika zeigte sich Argentinien bis in die jüngste Zeit besonders anfällig für rechtsextremistische Regime. In Chile konnte sich 1932 eine nationalsozialistische Bewegung etablieren. In Peru imitierten die Schwarzhemden der Unión Revolucionaria faschistische Vorbilder. In Bolivien entstand 1937 eine Falange nach spanischem Muster. In Mexiko griffen die antisemitisch und gegen Linke ausgerichteten Goldhemden des Generals Nicolás Rodriguez gewalttätig in politische Auseinandersetzungen ein. In China ließen die Blauhemden, eine 1932 entstandene geheime Eliteorganisation der Koumintang, deutliche Verwandtschaft zu den faschistischen Bewegungen in Europa erkennen. Japan erlebte ab 1931 eine Welle rechtsradikaler Morde.

Das Salazar-Regime in Portugal und die Franco-Diktatur in Spanien überdauerten die meisten vergleichbaren pro-faschistischen Regime, die sich unter dem Einfluss des italienischen und deutschen Faschismus etabliert hatten, bis in die jüngere Vergangenheit. In Griechenland lösten sich noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene rechtsextreme Militärdiktaturen ab. Für Chile ist die Phase der Pinochet-Diktatur in schrecklicher Erinnerung.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten - von Ausnahmen abgesehen - rechtsextreme Ideen und Bewegungen in den meisten Ländern zunächst keine nennenswerten Wirkungsmöglichkeiten mehr. Sie waren durch historische Erfahrungen diskreditiert. Rechtsextreme Nachfolgeparteien und Auffangorganisationen fristeten eine marginale Existenz. Das änderte sich in Europa schrittweise seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Für internationales Aufsehen sorgte die 1964 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), die bereits ein Jahr später bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag auf Anhieb 2,1 Prozent der Stimmen verbuchen konnte und in den Folgejahren vorübergehend in sieben Länderparlamente der Bundesrepublik Deutschland einzog. Zeitweise Erfolge konnten auch die Deutsche Volksunion (DVU, 1971-2011) und die Republikaner (gegründet 1983) erzielen. Deren Wählerpotential wird inzwischen von der Alternative für Deutschland (AfD) abgeschöpft, die inzwischen in zehn Länderparlamenten vertreten ist. In Reaktion auf den Euro-Rettungsschirm 2013 gegründet, rückte sie nach innerparteiischen Auseinandersetzungen deutlich nach rechts. Rechtsextreme und völkisch-nationalistische Positionen sind nicht zu übersehen. Das Schüren und die Instrumentalisierung von Ausländerängsten gehört zum selbstverständlichen Wahlkampfrepertoire. Der Einfluss der rechtsextremen Parteien in Deutschland ist territorial unterschiedlich zu bewerten. Auffällig ist, dass rechtsextreme Einstellungen in sozialen Problemgebieten, bei Männern, Arbeitslosen und bei Bevölkerungsteilen mit geringer Bildung am stärksten verbreitet sind.brechen will.

In Frankreich vermochte der 1972 gegründete Front National (FN) unter Jean-Marie Le Pen an der Wende zum 21. Jahrhundert Wähleranhang aus dem Arbeiter-, Angestellten- und Mittelschichtenmilieu zu gewinnen. Die Wahlerfolge des Front National in den großstädtischen Ballungsgebieten sind eine Bestätigung für die Anfälligkeit sozialer Problembereiche für Rechtsextremismus. In Italien überdauerten faschistische Veteranen in der 1946 gegründeten Movimento Sociale Italiano (MSI) die Nachkriegsjahre. Die Umwandlung in die Nationale Allianz (Alleanza Nazionale, AN) und das Bündnis mit der Forza Italia (FI) unter Berlusconi sowie mit der Lega Nord (LN) brachte erstmals wieder eine rechtsextreme Partei in eine nationale Regierung. In Österreich standen die Wahlerfolge der Freiheitlichen Partei (FPÖ) unter Jörg Haider in den 1990er Jahren für ein Wiedererstarken rechtsextremer Tendenzen. In den Niederlanden konnte die 2006 gegründete Partei für die Freiheit des Gert Wilders rasch zur drittstärksten politischen Kraft werden. In der Schweiz stieg die nationalkonservative und rechtspopulistische Partei 1999 zur stärksten Kraft im Nationalrat und der Bundesversammlung auf. In Großbritannien entstand in den 1960er Jahren die Skinhaed-Subkultur, die sich zunächst links verortete, jedoch bald Zulauf aus der Neonaziszene erhielt. In den 1980er und 1990er Jahren haben sich aus der Skinhead-Subkultur heraus international agierende rechtsextremistische Netzwerke gebildet.

Die Implosion des Realsozialismus im ehemaligen sowjetischen Bündnisbereich und die Transformation der osteuropäischen Gesellschaften seit 1989 hat zu einer deutlichen Stärkung antimarxistischer und konservativer Kräfte sowie zu einer Belebung nationalistischer und rechtsextremer Strömungen in diesen Ländern geführt. Mit wachsendem Abstand zum Zweiten Weltkrieg verstärkt sich die Tendenz geschichtsrevisionistischer Entschuldung des Rechtsextremismus und der Wiederbelebung ideeller und struktureller Traditionen aus der Zeit vor 1945. Dies ist in West- und Osteuropa zu beobachten. Wenn zum Beispiel lettische Nachahmer und Helfer der deutschen Besatzer oder ungarische Pfeilkreuzler in den Rang von Patrioten aufsteigen, ist Widerspruch geboten.

An dieser Stelle kann nur ein Brückenschlag von der historischen Rückschau über Gegenwartsbefunde in zukünftige Entwicklungstendenzen angedeutet werden. Deshalb soll abschließend auf das Resümee der Faschismusanalyse von Robert O. Paxton verwiesen werden: "Die angemessenen Antworten auf Gewinne der Faschisten zu finden ist nicht einfach, den es ist unwahrscheinlich, dass sich die Geschichte blind wiederholt. Wir haben aber eine viel bessere Chance, weise zu reagieren, wenn wir den Erfolg der Faschisten in der Vergangenheit verstehen."[4]

Anmerkungen

[1] Die Literatur zur Geschichte des Rechtsextremismus und Faschismus ist selbst für Experten kaum noch zu überscheuen. Deshalb hier nur einige wenige Empfehlungen: Christoph Butterwegge: Rechtsextremismus, Freiburg/Basel/Wien 2002; ders./Gudrun Hentges (Hrsg.): Rechtspopulismus, Arbeitswelt und Armut, Opladen/Farmington Hills 2008; Jürgen Hofmann/Michael Schneider (Hrsg.): ArbeiterInnenbewegung und Rechtsextremismus, Wien/Leipzig 2006; Kurt Pätzold: Faschismus Diagnosen, Berlin 2015; Stanley Payne: Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, München und Berlin 2001; Robert O. Paxton: Anatomie des Faschismus, München 2006; Manfred Weißbecker: Das Firmenschild - Nationaler Sozialismus. Der deutsche Faschismus und seine Partei, Köln 2011; ders./Kurt Pätzold: Geschichte der NSDAP 1920-1945, 3. Aufl., Köln 2009; Wolfgang Wippermann: Europäischer Faschismus im Vergleich. 1922-1982, Frankfurt a. M. 1983; ders.: Faschismus. Eine Weltgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute, Darmstadt 2009; Richard Stöss: Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 2005.

[2] Anton Drexler: Mein politisches Erwachen. Aus dem Tagebuch eines deutschen sozialistischen Arbeiters, München 1919, S. 12.

[3] Werner Jochmann: Im Kampf um die Macht. Hitlers Rede vor dem Hamburger Nationalklub von 1919, Frankfurt/M. 1960, S. 116.

[4] Robert O. Paxton: Anatomie des Faschismus, S. 321.