Vierzig Jahre "Radikalenerlass"
Diskussionbeitrag von Georg Fülberth (Marburg) während der 14. Tagung der Historischen Kommission
In den "Grundsätzen zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst" (bekannter geworden unter der Bezeichnung "Extremistenerlass" oder "Radikalenerlass"), die Bundeskanzler Brandt und die Ministerpräsidenten der Ländern am 28. Januar 1972 verabschiedeten, wird eine Schnittmenge der Interessen von Regierung und Opposition der damaligen Zeit sichtbar.
CDU und CSU strebten zurück an die Macht. Eines der Mittel hierfür war die Instrumentalisierung der Inneren Sicherheit für diesen Zweck. Die Aktionen der RAF wurden zum Anlass genommen, die Regierung zu scharfem Durchgreifen nicht nur gegen diese, sondern auch gegen angebliche kommunistische Unterwanderung im Inneren aufzufordern.
Ein zweites Motiv kam hinzu. Akademiker waren in konservativem Verständnis nach wie vor Angehörige einer Elite. 1968 schienen diese die Seite gewechselt zu haben. Nunmehr sollten sie durch Einschüchterung zurückgeholt werden.
Die SPD sah den Angriff der Union auf dem Feld der Inneren Sicherheit als Gefahr für ihr Verbleiben in der Regierung. Deshalb wollte sie sich in dieser Frage nicht übertreffen lassen.
Kurze Zeit - vor dem in dieser Frage eindeutigen Ergebnis der Bundestagswahl vom Herbst 1972 - schien die DKP eine potentielle Konkurrenz für die SPD zu sein. Auch später noch hatte der Marxistische Studentenbund Spartakus, welcher dieser 1968 neu konstituierten kommunistischen Partei nahe stand, großen Einfluss an den Hochschulen. Die SPD hatte ein organisationspolitisches Interesse daran, ihm entgegenzutreten. Der so genannte Radikalenerlass kam dieser Absicht entgegen.
Zuweilen wurde die Ansicht geäußert, mit dem Vorgehen gegen die "Radikalen" im Öffentlichen Dienst habe die sozialliberale Koalition ihre Ostpolitik absichern wollen. Nach dieser Lesart hätten CDU und CSU, falls sie wieder an die Regierung gelangten, die Verträge von Moskau und Warschau scheitern lassen. Ihre Rückkehr zur Macht hätten SPD und FDP auch dadurch verhindern müssen, dass sie sich in der nachgeordneten Extremistenfrage keine Blöße gaben.
Dies ist insofern eine Schutzbehauptung, als eine solche Gefahr nicht bestand. Bei der Entscheidung über die Ostverträge im Mai 1972 enthielt sich die Mehrheit der Unionsfraktion der Stimme und ließ jene auf diese Weise passieren. Auch sie konnte es sich trotz aller gegenteiligen Rhetorik nicht leisten, die neue Ostpolitik zum Scheitern zu bringen. Von der damaligen sozialliberalen Argumentation bleibt somit nur das Kalkül des Machterhalts.
Formal handelte es sich bei der Entschließung vom 28. Januar 1972 nicht um einen Erlass - also um ein Schreiben einer Behörde an einen konkreten Adressatenkreis -, sondern um eine allgemeine Willensbekundung. Auch der Terminus "Berufsverbote" erhielt einen anderen als den bisherigen rechtstechnischen Inhalt. Man versteht im strengen Sinn darunter die Verweigerung der Berufsausübung aufgrund eines konkreten Versagens (z.B. Aberkennung der Approbation eines Arztes wegen Kurpfuscherei). Hier handelt es sich dagegen um eine politische Maßnahme.
Die beiden Kernsätze der Entschließung vom 28. Januar 1972 lauteten: "Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Anstellungsvertrages."
Bereits 1950 hatten der damalige Innenminister Gustav Heinemann und Bundeskanzler Brandt ein Dokument veröffentlicht, das so genannte Extremisten vom Öffentlichen Dienst fernhalten oder aus diesem entfernen sollte. Es nannte 13 Organisationen - elf linke (darunter die KPD) und zwei rechte. Diese Maßnahme gehörte in den Kontext des Kalten Krieges: auch in anderen Ländern ging man gegen Kommunisten und deren Sympathisanten vor. Dabei gab es Unterschiede: in Frankreich und Italien mit ihren starken kommunistischen Parteien waren Berufsverbote im deutschen Ausmaß undenkbar. Eric Hobsbawm berichtet in seinen Lebenserinnerungen über die damalige britische Praxis: Mitglieder der KP, die im Öffentlichen Dienst beschäftigt waren, wurden von ihren Vorgesetzten aufgefordert, ihre Partei zu verlassen. Weigerten sie sich, wurden sie nicht entlassen, aber nicht mehr befördert.
Indem die DKP als Agentur einer feindlichen Macht behandelt wurde, war die Fernhaltung ihrer Mitglieder aus dem Öffentlichen Dienst im Grunde nicht eine Maßnahme der Inneren, sondern der Äußeren Sicherheit. Anders stand es im Fall von Ernest Mandel. Diesem in Belgien lebenden führenden Vertreter des Trotzkismus war 1972 nicht nur die Berufung an die Freie Universität Berlin, sondern durch Innenminister Genscher auch die Einreise in die Bundesrepublik verweigert worden. Hier funktionierten die Reflexe eines Apparates, der in der radikalen Linken generell den inneren Staatsfeind sah. Die Tradition, die hier wirksam wurde, war alt. 1898 wurde dem Physiker Leo Arons, einem Mitglied der Sozialdemokratischen Partei (auf deren rechtem Flügel er stand), sogar der Status eines Privatdozenten aberkannt. Im Faschismus war diese Praxis enorm radikalisiert worden. 1972 im Fall Mandel, selbst noch unter der sozialliberalen Koalition, hatte der Apparat in seiner Paranoia gegen links weiter freie Hand. Eine gründliche Wende ist hier bis heute nicht erfolgt, wie die Verfassungsschutz-Berichte und -Blamagen der jüngsten Zeit belegen: weiterhin Verdächtigung und Beobachtung nach links hin und zugleich Blindheit (wenn nicht sogar aktive Tolerierung und Förderung) nach rechts.
Der Beschluss vom 28. Januar 1972 sollte eine Praxis vereinheitlichen, die schon vorher begonnen hatte. Seit 1971 versperrte der sozialdemokratisch geführte Senat in Hamburg kommunistischen Lehramtsbewerber(inne)n den Weg ins Referendariat. Im gleichen Jahr lehnte es der Wissenschaftssenator Moritz Thape in Bremen ab, das DKP-Mitglied Horst Holzer an die Universität Bremen zu berufen. Selbstverständlich blieb Personen, die im Verdacht standen, der radikalen Linken anzugehören, auch in Unions-regierten Ländern der Zugang zum Öffentlichen Dienst verwehrt, allerdings gab es dort weniger einschlägige Bewerber(innen).
Mit dem Beschluss vom 28. Januar 1972 ist die "Regelanfrage" eingeführt worden. Wer in den Staatsdienst wollte, wurde vorher vom Verfassungsschutz gescreent. Der quantitative Ertrag ist in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung so beziffert worden: Von "Anfang 1972 bis Ende 1979 wurden etwa 2-2,4 Millionen und bis 1987 3,5 Millionen Menschen überprüft (‚Regelanfrage’ bei Bewerbungen). Der Verfassungsschutz verfügte über Akten mit negativen Informationen über rund 35.000 Personen. Die Behörden versperrten anfänglich 10.000 Bewerbern den Zugang zum öffentlichen Dienst, von denen allerdings viele später erfolgreich Berufung vor höheren Amtsstellen oder vor Gericht einlegten. Schließlich wurden zwischen 1.102 und 2.250 Personen nicht eingestellt."(1) 136 wurden entlassen. Schwerpunkt waren die Schulen, aber es gab auch Berufsverbote bei Bahn und Post.
Ganz einheitlich ist die Praxis - trotz der am 28. Januar 1972 demonstrierten Bereitschaft zu einheitlichem Vorgehen - nicht gewesen. Im bis 1985 von der CDU regierten Saarland soll es keine Berufsverbote gegeben haben. Auch in Hessen wurden sie bis 1974 nicht praktiziert - zumindest gab es keine Abweisung kommunistischer Bewerber(innen) wegen ihrer Organisationszugehörigkeit. Stattdessen wurden "kalte" Berufsverbote ausgeübt: Ablehnungen aus angeblich unpolitischen Gründen. So ist in Marburg eine Berufungsliste mit Horst Holzer an der Spitze wegen angeblicher Zweifel an seiner Eignung vom Ministerium zurückgegeben worden. Dabei war der habilitierte Soziologe bereits seit 1970 Professor in München. 1980 ist er dort aufgrund seiner DKP-Mitgliedschaft aus dem Beamtenverhältnis auf Probe entlassen worden.
1975 gab das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil über den Fall eines Mitglieds einer "Roten Zelle" den Behörden nahezu völlige Ermessensfreiheit in ihren Entscheidungen. Es wies die Klage des Betroffenen ab.
Von Anfang an gab es breiten Protest. Dass der "Bund demokratischer Wissenschaftler" (heute: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler) bei seiner Wiedergründung Anfang Juli 1972 auf Anhieb 1000 Mitglieder hatte und breite Medienresonanz fand, war u. a. auch eine Reaktion auf den Beschluss vom 28. Januar. Er war zwar schon 1968 ins Leben gerufen worden, mit Focussierung auf das Problem der Wissenschaftsfreiheit im Verhältnis zu Staat und Kapital, aber hierfür fand sich zunächst keine größere personelle Basis. Erst die Entschließung vom 28. Januar 1972, die ihr schon vorangegangene Diskriminierungspraxis und 1970 die Entstehung des konservativen "Bundes Freiheit der Wissenschaft", der letztere ebenfalls befürwortete und zugleich die Demokratisierung der Hochschulen bekämpfte, wirkte jetzt mobilisierend. Eine Initiative "Weg mit den Berufsverboten" organisierte eine der bis dahin breitesten außerparlamentarischen Bewegungen in der Bundesrepublik.
Im Ausland wurde man schnell hellhörig. Alfred Grosser machte die deutsche Radikalenverfolgung zum Thema seiner Friedenspreis-Rede 1975. Besonders verwies er auf den Fall der Lehrerin Silvia Gingold aus einer jüdischen und kommunistischen Familie: ihre Eltern waren während des Nationalsozialismus nach Frankreich emigriert, hatten viele Angehörige verloren und in der Résistance gekämpft. Jetzt sollte die Tochter ihren Beruf nicht ausüben dürfen. In Frankreich kündigte François Mitterand die Gründung eines eigenen Komitees gegen die deutschen Berufsverbote an, unterließ es dann allerdings.
Mit Grossers Rede begann die Delegitimierung der Berufsverbotspolitik im In- und Ausland. Anfang 1979 wurde der Oppositionsführer Helmut Kohl in einer Diskussion des niederländischen Fernsehens über dieses Thema nachgerade demontiert.
Seit Beginn der Lehrerarbeitslosigkeit in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erwies es sich nicht mehr als nötig, dass sich die Einstellungsbehörden mit politischen Ablehnungsgründen blamierten: wurde jemand nicht akzeptiert, lag es eben einfach am Überangebot von Bewerbungen. Um 1980 herum wurde zunächst in den sozialdemokratisch regierten, dann in allen anderen Ländern (zuletzt 1991 in Bayern) die Regelanfrage wieder abgeschafft, "Bedarfsanfragen" aber bleiben bis heute möglich. In Niedersachsen gab es Anfang der achtziger Jahre noch ein paar besonders scharfe Berufsverbote: Einleitung von Entlassungsverfahren gegen Beamte auf Lebenszeit. 1995 befand der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, dass die Lehrerin Dorothea Voigt, die in den vorangegangenen Instanzen vom Rechtsanwalt Gerhard Schröder vertreten wurde, in diesem Land wieder einzustellen sei. Als Annette Schavan in Baden-Württemberg ein Berufsverbot gegen den Antifaschisten Michael Csaszkóczy verhängen wollte, entschied 2007 ein Gericht in Karlsruhe für ihn.
Zu den Ursachen für den Rückzug der Berufsverbotspolitik in eine Art Latenzphase gehörte, dass diese der SPD deutlich geschadet hatten: neben der Befürwortung des Baus von Atomkraftwerken und dem von Helmut Schmidt vorbereiteten und dann mitgetragenen NATO-Beschluss zur Stationierung atomar bestückter Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa 1979 trug sie dazu bei, dass der Rückhalt der sozialdemokratischen Partei unter der Massenschicht der Intelligenz erodierte und die Grünen aufstiegen. Als Willy Brandt schließlich - nicht mehr Kanzler, aber weiterhin SPD-Vorsitzender - eingestand, mit dem Beschluss von 1972 einen Fehler begangen zu haben, versuchte er den organisationspolitischen Schaden zu begrenzen, aber es war zu spät: die SPD verlor ihr parlamentarisches Monopol links von der Union.
Mit dem Voigt-Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs und dem Erfolg Michael Csaszkóczys sind die Berufsverbote nicht auf Dauer unmöglich geworden. Als sie in Westdeutschland ihr Werk getan hatten - bis heute nachwirkende, durch die Arbeitsmarktlage immer wieder erneuerte Einschüchterung -, wurden sie ab 1990 in der ehemaligen DDR nachgeholt, und zwar in ganz anderer Quantität. Die Abwicklung der ostdeutschen Intelligenz war die breiteste deutsche Berufsverbotswelle seit dem Faschismus.
Die Praxis in Westdeutschland wies eine interessante innere Differenzierung auf. Es gab drei Maßnahme-Kategorien:
- Ablehnung von Bewerberinnen und Bewerbern,
- Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Probe,
- Entlassung von Beamten auf Lebenszeit.
Nr. 1 und 2 trafen vor allem Intellektuelle, Nr. 3, der härteste Zugriff, aber in erster Linie Nichtakademiker: Postbeamte der untersten Besoldungsgruppe. So zeigt sich selbst unter den Betroffen eine wenn nicht klassen-, so doch schichtspezifische Selektion.
Anmerkung
(1) Braunthal, Gerard: Politische Loyalität und Öffentlicher Dienst. Der "Radikalenerlaß" von 1972 und die Folgen. Marburg 1992. S. 117.