Weltkrieg, "Urkatastrophe" und linke Scheidewege
Beitrag von Dr. sc. phil. Stefan Bollinger auf der 19. Tagung der Historischen Kommission
"Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse." (Engels 1887, 350f)
Mit dem Niedergang des Ostblocks und des Realsozialismus wird die Geschichte neu geschrieben. Lückenlos. Verorteten einst Marxisten-Leninisten in der Oktoberrevolution einen Epochenanfang, dem nachhaltigsten und gewaltsamstem Ausbruch aus dem 1. Weltkrieg - was unter jäh eigenen Vorzeichen als Beginn eines Weltbürgerkriegs bis in die Rechte (siehe z.B. Nolte 1979) hinein akzeptiert wurde -, so wird nun das Gewäsch von der "großen Unübersichtlichkeit" der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart weit in die Vergangenheit transferiert. Zugleich wird Eric Hobsbawms Diktum vom Zeitalter der Extreme (siehe Hobsbawm 1995) in diesem ideologischen Kampf um Geschichtsdeutung und Sicherung der heutigen kapitalistischen Politik verfälscht: Es sei ja eine linken wie rechten Totalitarismen geprägte Zeit. Die aber sei erst mit der assistierten "Selbstbefreiung" des Ostblocks 1989/91 so glücklich zu Ende gegangen.
Das Jubel- und Erinnerungsjahr 2014 wird so zur glücklichen Fügung, in der die Jahrestage von 1914, 1939 und 1989, dazu noch 2004 (als Jahr der EU-Osterweiterung) zusammenfließen. Die Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur kann so das Konzept dieser Erinnerungspolitik rechtzeitig festschreiben: "2014 lässt sich somit aufzeigen, wie die Geschichte von Demokratie und Diktatur im Europa des 20. Jahrhunderts miteinander verflochten sind. Der Blick auf die europäische Zeitgeschichte vermag das Verständnis dafür zu schärfen, dass die ökonomischen Probleme der europäischen Gegenwart vor dem Hintergrund der unseligen gemeinsamen Vergangenheit lösbar sind und gemeinsam gelöst werden müssen. 2014 eröffnet zudem eine weitere Chance: Eine Perspektive auf die europäische Zeitgeschichte, die die Jahre 1914/1939/1989 verbindet, kann dazu beitragen, die europäische Erinnerungskultur zusammen zu führen, in der die Teilung Europas vor 1989 bis heute fortbesteht." (Ott/Mählert 2012, 1. 1) Entsprechend ihren herausragenden materiellen Möglichkeiten hat die Stiftung keine Kosten und Mühen gescheut, das Jahr 2014 mit einer Wanderausstellung zu begleiten und Drucke zu günstigen Preisen in großen Mengen anzubieten. Gemeinsam mit dem Münchener Institut für Zeitgeschichte versprechen die Verantwortlichen zu "zeigen, wie die 'Urkatastrophe' des 1. Weltkriegs mit ihrer Gewalterfahrung den Aufstieg der totalitären Bewegungen im 20. Jahrhundert begünstigt" habe. Letztlich erzählt die Ausstellung Diktatur und Demokratie im Zeitalter der Extreme "Europas 20. Jahrhundert als dramatische Geschichte zwischen Freiheit und Tyrannei, zwischen Demokratie und Diktatur" (Werbeflyer 2013, S. 2).
Dieser Weg des Triumphs der Demokratie muss kritisch unter die Lupe genommen werden, wozu sich das Einstiegsjubiläum 1. Weltkrieg zwangsläufig anbietet. Dabei werden 2014 die Erinnerungen und (Neu-)Bewertungen des ersten großen Krieges des 20. Jahrhunderts zentral sein. Wobei ein nahtloser Übergang auch zu einer Erinnerung an den folgenden Weltkrieg Nummer Zwei als Revanche-Krieg des Verlierers wesentlich sein wird. Letzterer wird dabei zweifelsohne als ein Krieg beschrieben werden, der von zwei Paria der Weltgemeinschaft, von Hitlers Deutschland im Bündnis mit Stalins Sowjetunion verursacht wurde - gegen die Demokratien Europas. Beide Diktatoren werden als Produkt dieser Urkatastrophe deklariert.
Nicht untypisch, wenn auch etwas grotesk ist das anekdotenhafte Beschreiben einer möglichen Begegnung des Bildermalers Adolf Hitler und des Berufsrevolutionärs Josef Stalin im Park des Wiener Schlosses Schönbrunn. Dank des hochgelobten Bestseller-Autor Florian Illies wird die sonst noch heile, obschon fragile Welt des Jahres 1913 zum Panoptikum glücklicher wie unglücklicher Intellektueller am Ende der Belle Époque, wird die totalitarismusschwangere, natürlich unbelegte Begegnung der künftigen Diktatoren zur ernst gemeinten Farce. So liefert auch das Feuilleton zeit- und termingerecht das Gewünschte (siehe Illies 2012).
Streit um Geschichte ist Streit um Gegenwart
Diverse Historiker und Organisationen erinnern sich jener Ereignisse vor 100 Jahren, die damals und für die Zwischenkriegszeit, auch noch für die Auseinandersetzungen im und nach dem 2. Weltkrieg relevant schienen (Vgl. z.B. Preljevic/Ruthner 2013). Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks sind die erledigt geglaubten Nationalismen wieder aufgetaut und schaffen neue Feindschaften. Gleichzeitig sucht eine künstlich belebte Europa-Euphorie einstige Gräben zuzuschütten, während dank Weltwirtschafts- und Euro-Krise teilweise genau in den damals als Pulverfass wirkenden Regionen diese Gräben und das Ringen um zumindest europäische Vormacht neu aufbrechen.
Dabei zeichnen sich einige zentrale Verständnislinien ab, die für eine kritische, für die linke, emanzipatorische Theorie, Geschichtspolitik und Politik eigentlich Anlass zum Gegenhalten sein müssten. Dies zumal, weil Anlässe und faktische Auslöser des Krieges - Stichwort Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 - wenig mit den tieferen Ursachen von Krieg und imperialistischer Konkurrenz zu tun haben. Nicht zuletzt auch deshalb, weil selbst diese Attentats-Auswahl selektiv ist und zum Verständnis jener Konstellation von 1914 zumindest für die Linke ein zweites Attentat, jenes auf den französischen Sozialistenführer Jean Jaurès am 31. Juli in Paris, hinzugezogen werden müsste. Der vehemente Kriegsgegner wurde von einem Nationalisten - natürlich ungesühnt - ermordet, der Arbeiterbewegung ihre Grenzen gewiesen. "Kaltes Blut tut not", Jaurès Aufmacher für die L'Humanité von diesem Tage verhallte ungehört (siehe Ullrich 2009).
In den heutigen Diskussionen und Darstellungen des 1. Weltkriegs ist es schwierig, die wirklichen sozialen, ökonomischen, ideologischen und machtpolitischen Konstellationen zu erfassen, gar die Grundmechanismen von Kapitalismus und Imperialismus. Einstige marxistische Darstellungen sind verdrängt und vergessen. Selbst ihre Autoren erinnern vor allem die Grenzen und Einseitigkeiten parteipolitischer Korrektheit. Dadurch ging manch komplexerer Zug von Ereignissen, Organisationen und Personen verloren, weniger die klare sozioökonomische Verordnung des Krieges, seiner Anstifter und Profiteure (kritisch Klein 2009, 315ff; umfassend Klein u.a. 1970/2004).
Es gibt gute neuere Gesamtdarstellungen mit dem besonderem Schwerpunkt auf die politischen und militärpolitischen Aspekte (siehe u.a. Enzyklopädie Erster Weltkrieg 2009; Burgdorff, Stephan/Wiegrefe, Klaus 2004, Neitzel 2008), es greifen konzentrierte Gesamtdarstellungen nicht zuletzt auch aus deutscher Sicht (vgl. z.B. Mommsen 2002, Angelow 2010), es gibt gar kritische Versuche linksliberaler Suche nach den Kriegsursachen (siehe Canfora 2010), die aber schon jenseits des Mainstreams ihre Leser finden müssen. Neuerdings überlagert eine gesteuerte Bestsellermanie um Christopher Clarks Schlafwandler (2013, kritisch dazu z.B. Ullrich 2013, Pätzold 2013) alle Diskussion jenseits einer historisch-kritisch, sozial-ökonomisch fundierten, geschweige denn marxistischen Analyse. Dagegen finden sich bei manchen Autoren, die die Kriegs- und Gewaltprozesse des 20. Jahrhunderts kritisch analysieren durchaus bedenkenswerte Einsichten (siehe z.B. Howard 2010, Sheehan 2008).
Hier können die für die politische und theoretische Auseinandersetzung mit dem Krieg relevanten Verständnislinien nur skizziert werden:
Erstens wird der Krieg von 1914 als Bruch in einer eigentlich friedlichen, demokratischen, sich gar sozialistisch-sozialdemokratisch entwickelnden europäischen Welt eines langen Friedens mindestens seit 1871 interpretiert. Ein genauerer Blick lässt erkennen, dass selbst diese eurozentristische Sicht bewusst in die Irre leitet. Der Focus richtet sich vor allem auf das Neben- und Zusammenleben dreier zivilisierter Mächte - Deutsches Reich, Frankreich, Großbritannien, dazu einige zentraleuropäischer Staaten. Da interessieren die permanenten Kriege an der Peripherie Europas, insbesondere auf dem Balkan nur insofern, als ihr erneutes Aufflackern 1911-1913 den Glutfunken für die Zündschnur zum großen Knall lieferte. Der Balkan, die Serben werden zum Nabel der Welt.
Dabei wird ausgeblendet, dass all diese ach so zivilisierten Länder weltweit, mitunter gemeinsam, gelegentlich in Wettbewerb und Konfrontation Kriege in und um Kolonien und abhängige Gebiete führten. Jede der 1914 beteiligten Armeen, vom British Empire bis zum heimtückisch überfallenen neutralen Belgien hatte Blut sehr ungleicher Kampfhandlungen in der später so apostrophierten 3. Welt an den Händen zu kleben. Es waren Kriege, die, wenn auch oft etwas verstiegen, für ökonomische Ziele geführt wurden.
Die heute beschworene Friedensordnung der Vorkriegszeit ist die einer bis dato mehr oder minder austarierten Ordnung der Großmächte, die den langen Frieden vor allem als eine langfristige Vorbereitung auf einen künftigen Waffengang zur eigenen Expansion betrieben. Dafür rüsteten sie zu Lande und zur See, bald auch in der Luft und schmiedeten oft brüchige Allianzen - zwischen Dreibund (Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien) und Triple Entente (Frankreich, Großbritannien, Russland). Diese Bündnisse erwiesen sich im Ernstfall als nicht unbedingt zuverlässig (Italien schwenkt nach kurzer Neutralität 1915 zur Entente). Ausschlaggebend waren machtpolitische und wirtschaftliche Interessenlagen und vor allem Möglichkeiten. Die "Völkergefängnisse" Österreich-Ungarn, Osmanisches Reiches und Russisches Reich waren mit nationalen und sozialen Konflikten geschlagen. Sie suchten, ihre Einflusszone zu behaupten, was sie insbesondere am Balkan aufeinandertreffen ließ - mit oft fragilen, aber reinweg kampfeslüsternen Verbündeten. Die zaristische Selbstherrschaft war zudem nach dem Krieg mit Japan und der Revolution von 1905 in ihren Grundfesten erschüttert. Andere einstige Großmächte in Europa (Spanien) oder in Asien (China) waren lange ausgeschaltet, hatten nach Niederlagen gegenüber den USA bzw. Japan kaum Spielräume. Mit beiden letzteren Mächten, vor allem der "virtuellen Großmacht" USA (Hobsbawm 1989, S. 23), deutete sich eine in Europa nur vage, vielleicht als "gelbe Gefahr" erahnte grundsätzliche Machtverschiebung zu Lasten des alten Kontinents an. Frankreichs (trotz der Niederlage 1870) und Großbritanniens Macht und Kolonialreiche waren unumstritten. Ihre Probleme lagen in den Kolonien, für die Briten selbst am anderen Ufer der Irish Sea.
Indes trat seit 1871 das Deutsche Kaiserreich mit "Blut und Eisen" als neue Großmacht mit dem damals dynamischsten Wirtschaftswachstum, wachsendem Wohlstand und unbändigem Expansionsdrang auf die Tagesordnung. Was 1887 noch vage Zukunftsmusik schien, als der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow verkündete, "wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne" (Bülow 1897), war bald Realität - in den deutschen Rüstungsschmieden, die weltweit verkauften, in den deutschen Kasernen und nun auch auf den Ozeanen. Nach des Kaisers Palästinareise (1898) und vor allem dem Bau der Bagdad-Bahn (ab 1903), dem deutschen Engagement bei der Niederwerfung des Boxeraufstands 1900, der "Pazifizierung" der wenigen deutschen Kolonien, dem "Panthersprung" nach Agadir (1911) halfen auch die vermeintlich guten Verwandtschaftsbeziehungen der Herrschaftshäuser und die intellektuelle Freizügigkeit wenig. Der Kuchen musste neu verteilt werden. Ein russischer Revolutionär schrieb später: "Für den Imperialismus ist gerade das Bestreben charakteristisch, nicht nur agrarische Gebiete, sondern sogar höchst entwickelte Industriegebiete zu annektieren (Deutschlands Gelüste auf Belgien, Frankreichs auf Lothringen), denn erstens zwingt die abgeschlossene Aufteilung der Erde, bei einer Neuaufteilung die Hand nach jedem beliebigen Land auszustrecken, und zweitens ist für den Imperialismus wesentlich der Wettkampf einiger Großmächte in ihrem Streben nach Hegemonie, d.h. nach der Eroberung von Ländern, nicht so sehr direkt für sich als vielmehr zur Schwächung des Gegners und Untergrabung seiner Hegemonie (für Deutschland ist Belgien von besonderer Wichtigkeit als Stützpunkt gegen England; für England Bagdad als Stützpunkt gegen Deutschland usw.)." (Lenin 1916, 273) Berlin war eine akute politische Bedrohung für die anderen Mächte.
Trotz einer achtbaren pazifistischen Friedensbewegung mit Bertha von Suttner, Norman Angell und anderen bürgerlichen Aktivisten, trotz einer sich antimilitaristisch und internationalistisch erklärenden Arbeiterbewegung, trotz der Versuche, dem Krieg seine Schrecken durch internationale Verträge zu nehmen: Es war nur eine langer Frieden, in dem sich die Herrschenden, die Unternehmer, vor allem die Militärs und nicht wenige Intellektuelle auf einen neuen Krieg vorbereiteten. Zudem ist nicht zu übersehen, dass diese Friedensordnung zumindest im Herzen Europas mit dem Tod von zehntausenden Kommunarden in Paris 1871 eingeleitet wurde. Über alle nationalistischen Dünkel hinweg wussten deutsche Autokraten wie französische Demokraten, dass der wirkliche Feind im Zweifel im eigenen Land gegen sie stehen wird. Die Kommunarden waren Opfer eines Klassenkrieges, der nun in neuer Weise neben die Kriege und Metzleien der nationalistisch drapierten Eroberungskriege trat.
Zweitens ist das expansive Bestreben der meisten der Großmächte mit veränderten innenpolitischen Bedingungen verbunden. Starke Arbeiterbewegungen und linke Parteien suchten Einfluss und Macht zu gewinnen. Sie taten dies mit unterschiedlicher Radikalität und waren mit differenzierten Gegenstrategien der Herrschenden konfrontiert. Zwischen der Russischen Revolution von 1905 und dem Millerandismus(1) des Klassenkompromisses lagen Welten. Beide Prozesse verweisen aber auch auf die Schwierigkeiten des Übergangs zum Monopolkapitalismus und den Konflikt zwischen revolutionärem oder reformistischem Strategien gegen den Kapitalismus wie den Gegenstrategien der Herrschenden. Noch schien die Sozialdemokratie entschlossen, die Verhältnisse umzustürzen und sah die Gefahr eines großen Krieges, der all ihre Fortschritte zunichtemachen würde. Dagegen waren sie grenzüberschreitend bereit zu kämpfen, wie der Stuttgarter Sozialistenkongress 1907 als Grundsatz festschrieb: "Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet …, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern.
Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen." (Internationaler Sozialisten-Kongress 1907, 66)
Dennoch war dieser Resolutionstext nicht unumstritten und vorsätzlich so vage gefasst. Sowohl die russischen Sozialdemokraten wollten Verschärfungen als auch die französischen. Letztere wollten die Kampfmethoden klar benannt haben. August Bebel wandte sich gegen "Uniformregeln". Wortreich wurde vor den Delegierten betont, dass die Deutschen dies "nicht aus Furcht vor Verfolgungen getan hätten". Vielmehr waren es "die Bedürfnisse der Partei ..., die uns veranlassten, eine andere Form zu wählen, die unseren Notwendigkeiten entsprach" (ebd., 67). Sieben Jahre später wurde manches klarer, auch die Folgen des unabgeschlossenen Ringens mit revisionistischen und überzogen reformistischen Positionen. Die SPD war wie die Genossen in den meisten europäischen Staaten von den Aussichten des Parlamentarismus beeindruckt, begriff sich in weiten Teilen mehr und mehr als staatstragend. Dies, obwohl trotz erheblicher Stimmgewinne der Zugang zur Macht bis zum Kriegsende verwehrt bleiben sollte. Trotzdem wurden die Klassenkämpfe auch in den scheinbar zivilisierten europäischen Saaten oft hart ausgetragen, war der Einsatz der repressiven Gewalt schnell zur Hand.
Die Konkretheit der Analyse
Drittens verschwimmt dank vielfältiger Forschungen und dem Streben, eine andere Geschichtsinterpretation durchzusetzen wieder die Schärfe der Analyse zu Ursachen, Interessenlagen und Strategien, die schließlich zum großen Krieg führten. Letztlich dürfte die aktuell hochgekochte Schlafwandler-These Christoph Clarks (2013) dominieren. Sie entspricht dem positivistischen Zeitgeist, bedient das Personalisieren von Geschichte, scheint Parallelen zu heutiger Politikinterpretation zu bieten - und wird massiv medial verbreitet. Überforderte Politiker schlittern in einen Krieg, in dem Sachzwänge alle Schritte bis hin zum großen Kladderadatsch vorbestimmen. Was bewegt da die lange Vorbereitung auf den Krieg, die Interessen der Rüstungsindustrie, was bedeutet da die militärstrategische, materielle, ideologische Zurichtung der Gesellschaften in allen Großmächten (exemplarisch zur Wirkungsweise dieser Nationalismen: Vogel 1997, Grabowski 1998, Wirsching 1999). Wozu bedarf es da einer kritischen Hinterfragung des Chauvinismus und Militarismus, die keineswegs nur deutsche Spezifika waren. Da braucht es dann keiner Imperialismustheorien, keines John A. Hobson, keiner Rosa Luxemburg oder gar eines Wladimir Iljitsch Lenins - wobei letzterer im Krieg selbst dessen sozialökonomische Logik sezierte und beschrieb (siehe Bollinger 2004).
So bleibt kein Platz für die sozialökonomischen Logik, die sich aus der imperialistischen Entwicklung, hier der großen Staaten, und ihren Interessenlagen ergab - die Expansion notwendig machte zumal für die, die zu spät gekommen waren. Dabei dominierte damals der offene militärische Einsatz, weniger das Setzen auf die ökonomischen Argumente eines stealth imperialism (Johnson 2001, 65), wobei dessen Methoden, wie der Bau der Bagdad-Bahn zeigte, durchaus bekannt und zielführend sein konnten. Indirekt stellt sich naturgemäß auch die Frage, ob der Ende des 1. Weltkrieges die Phase des Imperialismus beendete, was heute Gemeinplatz ist, oder ob genau diese imperialistische, expansive Profitmacherei zum Wesensmerkmal kapitalistischer Politik und Wirtschaft gehört. Auf jeden Fall ging es nicht um das Retten der Demokratie und Verhindern der Diktatur. Abgesehen davon, dass alle Kriegsparteien sich wahlweise jeweils der Demokratiefeindschaft bezichtigten - der Kaiser den Zaren, Paris und London den Kaiser usw. usf. machten alle Kriegsbeteiligten selbst den Weg zur faktischen Militärdiktatur durch.
Viertens stellt sich in diesem Kontext die Frage nach der Kriegsschuld. Im Zuge des Neuschreibens der Geschichte, zumal der deutschen, bahnt sich eine Entschuldung des Deutsche Reiches wie der deutschen politisch und wirtschaftlich herrschenden Klassen an. Dabei steht schon die Frage nach der besonderen Verantwortung jener Mächte, die jenseits der zwar tödlichen, aber doch sekundären Konflikte auf dem Balkan tatsächlich Expansionsbedingungen global suchten. Das betraf zuerst jene, die zu spät gekommen waren, um ihren "Platz an der Sonne" zu gewinnen. Logischerweise war dies für das Deutsche Reich von zentraler Bedeutung und erst nach Jahrzehnten der Verharmlosung und Schuldleugnung mit Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht (siehe Fischer 1967) endlich geschichtsnotorisch gemacht. Genau dies wird heute in multikausalen Ansätzen aufgelöst. Der Versuch einer Neuaufteilung der Welt durch das zu spät gekommene Deutsche Reich entfesselte einen Weltkrieg, indem die anderen imperialistischen Mächte begierig und mit eigenen Interessen eingriffen. Darum standen Wilhelm II. und die Militärs der K.u.k.-Monarchie bei. Dass keiner der Beteiligten den Krieg bekam, den er wollte und den die bald jubelnden Massen erhofften, lag in der Logik der Sache.
Verständlich ist auch, dass diese Logik unter dem Eindruck der Nachgeschichte des 1. Weltkriegs und des Weges in den 2. zumindest für Deutsche kaum zu verdrängen sein sollte. Das allerdings ist eine zusätzlich Bürde, die dem Wunsch und der Realität deutscher nationaler Normalität und Hegemonie in der Gegenwart im Wege steht. Wer will schon immer die Pickelhaube und das Hakenkreuz vorgehalten bekommen, wenn deutsche Euros und Rettungsrezepte für Ordnung und Abhängigkeit sorgen. Immerhin könnte sich eine solche Sicht auf Normalität auf die weitsichtigen Europa-Ideen der Reichsleitung berufen. In seinen im September 1914 aufgeschriebenen Kriegszielen warb Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg "Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventl. Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren." (Bethmann Hollweg 1914, 44). Davor stehe allerdings die dauerhafte Niederwerfung und Ausplünderung Frankreichs, das Herausdrängen Russlands einschließlich des Brechens der russischen "Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker", die Verwandlung Belgien in einen "Vasallenstaat", Annexionen in Frankreich (Erzbecken von Briey) und Belgien (Lüttich und Verviers), der Anschluss Luxemburgs usw. (ebd., 43/44). Später machte Friedrich Naumann (1916) diese Europa-Idee weiter hoffähig. Es schert heute wenig, dass sie bis 1945 zur deutschen Vorherrschaft und nach 1945 zur antikommunistischen Blockbildung gebraucht wurde, ohne dass Linke wirklich dieses Europa zu prägen vermochten.
Freilich steht ein solches Betonen einer deutschen Kriegsschuld oder zumindest einer hervorgehobenen Mit-Schuld im Kontrast zu linker Politik. Für die war diese Frage im Unterschied zu den Konfliktgegnern sekundär - auch im Blick auf die Friedensbewegung und die Linke. Für die Kriegspropaganda war sie wichtig und gab das Argument der Vaterlandsverteidigung für alle Kriegsbeteiligte ab. Insofern war sie auch für die SPD wichtig, die nun alle Marx-Zitate zum russischen Despotismus hervorkramte. Die Schuldfrage wurde mit der Frage von Despotie und Unterdrückung noch verstärkt - ob gegen Russland oder Deutschland gerichtet. Nicht zuletzt wurde die Schuldfrage durch die einseitige Belastung Deutschlands die Grundlage für den Friedensvertrag von Versailles 1919, der die Gründe für neue Konflikte und Vertreibungen auf dem Balkan und in Kleinasien bot, vor allem aber für den Revanchekrieg eines deutschen Faschismus ebnete.
Unbenommen von diesen Einschränkungen ist jedoch die besonders aggressive deutsche Kriegsführung: Mit dem Brechen der Neutralität von Belgien und Luxemburg, Kriegsverbrechen gegen vermeintliche Franc-tireurs, mit frühzeitigen Luftbombardements, der aktiven Hinnahme des Völkermordes an Armeniern durch die verbündeten Osmanen, den Abnutzungsschlachten á la Verdun, dem Ersteinsatz von Chemiewaffen und dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg schrieb Deutschland Kriegsgeschichte und beschleunigte den Weg der Massenvernichtung für das 20. Jahrhundert. Nicht zuletzt erprobte Deutschland im Osten ein perfektes System der Unterwerfung "neuen Lebensraumes" gegenüber den eroberten Slawen wie der bolschewistischen Gefahr (siehe Liulevicus 2002, Sachse 2010).
Gegen den Krieg, gegen den Kapitalismus
Das große Verhängnis des Krieges, das Zerplatzen aller Illusionen vom friedvollen Zusammenleben, aber auch von den Möglichkeiten einer organisierten Arbeiterbewegung war das Scheitern der Antikriegsbewegung(en) im August 1914. Es gab Resolutionen, Protestkundgebungen. Dann aber triumphierten Kriegspropaganda, Chauvinismus und Militarismus allerorten - auch unter Arbeitern, unter Parteimitgliedern und ihren Funktionären wie Intellektuellen - gleichwohl in Berlin, Wien, London, Paris oder St. Petersburg.
Das Schicksal der bürgerlichen, pazifistischen Bewegung gehört dazu, aber noch mehr das Scheitern der Sozialdemokratie und der II. Internationale. Sie ergriffen mit ihren Mitgliedern und Anhängern angesichts der Kriegsgefahr die Gelegenheit beim Schopfe, nun national und "staatstragend" werden zu können. Das gilt für alle Linken mit der Ausnahme der Bolschewiki und der Bulgarischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Engsozialisten). Die erfolgreiche Manipulation der Gesellschaften und die nationalistische wie militaristische Verblendung wirkten in allen europäischen Ländern, aber eben auch in dem Land mit der stärksten Linken. Um den Preis der politischen Anerkennung durch die Herrschenden war hier die SPD in ihrer Mehrheit bereit, die Anti-Kriegspolitik auf dem "Feld der Ehre" zu opfern. Typisch ist jene Erklärung von Hugo Haase, dem Parteivorsitzenden, am 4. August 1914 bei der Zustimmung zu den Kriegskrediten: "Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen ... Wir hoffen, dass die grausame Schule der Kriegsleiden in neuen Millionen den Abscheu vor dem Kriege wecken und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird." Davon "geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite" (Haase 1914, 30).(2) In Deutschland findet sich hierfür der Begriff der "Burgfriedenspolitik", der aber nicht abdeckt, dass einflussreiche Sozialdemokraten sich längst in der Verantwortung für die bestehende Gesellschaft und längerfristige Reformen in ihr sehen. Wilhelm II. kannte nun sowieso keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche (siehe z.B. Miller 1974, Niemann 2008).
Allerdings bewegte die Antikriegs-Bewegung, zumal die Linke, die Kriegsschuld weniger, wenn man die Positionen der radikalen Kräfte rekapituliert. Sie waren überzeugt, dass allein der Kampf gegen die jeweiligen nationalen Kriegstreiber Frieden bringen konnte. Dass hier die radikale Linke Lenins vorpreschte und die letzte Konsequenz der Umwandlung der imperialistischen Krieges in eine Revolution beschritt, war eine Option, die dann tatsächliche eine neue historische Situation mit Chancen wie Risiken eröffnete. In Konfrontation mit den anderen linken Parteien und im Bruch mit erheblichen Teilen der sich zur "Vaterlandsverteidigung" bekennenden Sozialdemokratie in Russland ließ Lenin keinen Zweifel, dass der reaktionäre Charakter des Krieges und seine sozialen Folgen die Stimmung anheizen würden. "Es ist unsere Pflicht, diese Stimmungen bewusst zu machen, zu vertiefen und ihnen Gestalt zu geben. Diese Aufgabe findet ihren richtigen Ausdruck nur in der Losung: Umwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg, und jeder konsequente Klassenkampf während des Krieges, jede ernsthaft durchgeführte Taktik von 'Massenaktionen' muss unvermeidlich dazu führen. Man kann nicht wissen, ob eine starke revolutionäre Bewegung im Zusammenhang mit dem ersten oder mit dem zweiten imperialistischen Krieg der Großmächte, ob sie während des Krieges oder nach dem Kriege auf flammen wird, jedenfalls aber ist es unsere unbedingte Pflicht, systematisch und unentwegt in eben dieser Richtung zu wirken." (Lenin 1915, 314).
In der Konsequenz unterschiedlich wird das Umfallen der Sozialdemokratie im Sommer 1914 zum Ausgangspunkt für eine dauerhafte Spaltung der organisierten Arbeiterbewegung und zum Bruch zwischen reform- und revolutionsorientierten Linken, zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, wie sie bald heißen sollten. Mit den Konferenzen in Zimmerwald und Kienwald 1915 bzw. 1916 formierte sich mühsam eine internationale linke Zusammenarbeit gegen den Krieg und das Preisgeben der linken Friedensziele. In Deutschland war dies der Weg über die Gruppe Internationale, den Spartakusbund und die USPD bis hin zur Gründung der KPD. Karl Liebknecht, dessen Ablehnung der Kriegskredite am 2. Dezember 1914 endlich auch im Reichstag den offenen Bruch mit der Kriegspolitik und der SPD-Politik demonstrierte und Rosa Luxemburg wurden in Deutschland zu den herausragenden, aber auch verfolgten Führern einer Antikriegsbewegung und einer Neuformierung der Linken. Haase brach schließlich auch mit der SPD, wurde Mitbegründer der USPD und wie die beiden anderen 1919 Opfer eines Mordanschlages.
Zu den wichtigsten Erfahrungen dieser sich reorganisierenden antimilitaristischen, internationalistischen Arbeiterbewegung wie auch pazifistischer Kräfte und vieler einfacher Soldaten und Bürger gehörte, dass Widerstand schwierig, aber möglich war. Das belegt nicht allein das private Ausbrechen von tausenden Soldaten Weihnachten 1914 (siehe Jürgs 2003). Dazu gehörten in deutscher Perspektive die Streiks 1916, 1917, der Munitionsarbeiterstreik 1918, der Aufstandsversuch in der Hochseeflotte 1917. In Österreich kam es 1918 zum Jännerstreik, hinter den französischen Linien wurde 1917 gemeutert und gestreikt, selbst im fernen Australien gab es im gleichen Jahr einen Generalstreik. Nicht zuletzt erwiesen sich die russischen Revolutionen 1917, vor allem die Oktoberrevolution mit ihrem Dekret über den Frieden, als wichtige Katalysatoren von Antikriegsbewegung wie sozialem Umbruch.
Urkatastrophe als Zäsur und Katalysator
Seit drei Jahrzehnten macht der Begriff "Urkatastrophe" als Synonym für den 1. Weltkrieg seine Runde. Georg F. Kennan, einst einer der "Erfinder" des Kalten Krieges, kam in seinem späteren Leben zu Einsichten, die die nicht nur die Blockkonfrontation als Irrweg ansahen. Er untersuchte auch den Zusammenbruch jener feingestrickten, auf Ausgleich bedachten Sicherheitsarchitektur des alternden Reichskanzlers Otto von Bismarck, die seine Nachfolger angesichts der sich neu eröffnenden globalen Perspektiven so leichtfertig zerstörten. In diesem Kontext schrieb er: "Viel später, nach Jahren im kommunistischen Russland und nationalsozialistischen Deutschland und angesichts des Phänomens des Zweiten Weltkrieges, wurde mir klar, in welch überwältigendem Maß die entscheidenden Zeiterscheinungen der Spanne zwischen den beiden Kriegen - der russische Kommunismus und der deutsche Nationalsozialismus - wie auch der Zweite Weltkrieg selbst das Resultat jener ersten großen Vernichtungskatastrophe von 1914/1918 waren: Die Rache der Natur, wenn man so will, für das entsetzliche Verbrechen am Ablauf des menschlichen Lebens, das jene Massenvernichtung dargestellt hatte; jedoch, wie das offenbar in der Natur liegt, eine Rache an einer späteren, unschuldigen Generation. So kam ich dazu, den Ersten Weltkrieg so zu betrachten, wie ihn viele denkenden Menschen zu sehen gelernt haben: als die Ur-Katastrophe dieses Jahrhunderts, das Ereignis, in dem stärker als in irgendeinem anderen - mit Ausnahme der Entdeckung von Kernwaffen und der Entwicklung der Bevölkerungs- und Umweltkrise - Versagen und Niedergang unserer westlichen Zivilisation begründet liegen." (Kennan, 11f)
Auch wenn diese Ereignisse nicht als Naturprozesse, sondern als in der Natur einer profitdominierten Gesellschaft gesehen werden, in denen jedoch die politischen und sozialen Akteure ihre eigenen Entscheidungsspielräume haben, bleibt dieser besondere Charakter des Einschnitts von 1914/18 und seiner revolutionären wie konterrevolutionären Nachwehen. Dass dieser Krieg nur Teil einer Gesamtgeschichte, einer globalen Durchsetzung des Kapitalismus war, könnte unstrittig sein (kritisch Reimann 2004). Hilfreich ist allerdings, genauer Einschnitte und neuen Qualitäten zu benennen, die diesen Krieg so prägend für die imperialistischen Rivalitäten und Klassenkämpfe einschließlich der alsbaldigen Systemauseindersetzung mit den kommunistischen Ausbrechern machen sollte. Der Weltkrieg wirkte tatsächlich als "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts. Und dies in mehrfach:
Zunächst war er der Beginn eines ungeheuren Zivilisationsbruchs, in dem Massenarmeen Krieg führten und in hoch industrialisierten, vermeintlich zivilisierten Ländern Verfahren der industrialisierten Massentötung - noch vor allem als Kriegsinstrument - praktizierten. Gewalt wurde Alltag für Millionen in Europa und zeitgleich in weiten Teilen der Welt. Die mühsam in den vorhergehenden Jahrzehnten gewachsene zivilisatorische Kruste zerbrach, Gewalt wurde selbstverständlich und so wurden alle anderen Konflikte in der Folge offen oder verdeckt ausgetragen oder drohten ausgetragen zu werden.
Gleichzeitig brachte dieser Krieg und das Verhalten der Linken ein verhängnisvolles, dauerhaftes, bis heute wirkendes Schisma zwischen vermeintlich staatstragend-reformorientierten, aber eben "vaterlandsverteidigenden" Linken und jenen hervor, die keine Alternative zum revolutionären Beenden von Krieg und Kapitalismus mehr sahen.
Darüber hinaus ist festzustellen, so bedeutsam die Antikriegsaktivitäten während des Krieges waren, ihre Zuspitzung fanden sie regelmäßig und letztendlich im Versuch, bei teilweisem Erfolg einer gewaltsamen Antikriegspolitik durch Aufstände und schließlich Revolutionen. Vor allem brachte der Krieg den zumindest versuchten radikalen Bruch mit jenen, die für ihn verantwortlich gemacht wurden. Tatsächlich rollten die Kronen über das Pflaster und eine ganze Periode revolutionärer Aufbrüche und ihrer konterrevolutionären Niederschlagung durchzogen Europa, aber auch Kolonien und abhängige Länder.
Schließlich formierte sich in diesem gewaltsamen Ringen der extremste politische Ausdruck diese Urkatastrophe, faschistischer Bewegungen und Diktaturen, die den Weg in Richtung Sozialismus und umfassenderer Demokratisierung aufhalten wollten.
Schlussendlich. Die Fortsetzung dieses Krieges und seines ungerechten Friedens von Versailles war in diesem Gemisch von Bekämpfung der Linken, neuem Nationalismus und Revanche die konsequente Folge. Dazu kann der Zusammenhang zu dem Revisionskrieg von 1939 hergestellt werden, in dem nun ein faschistisches Deutschland mit seinen Verbündeten die Folgen von Versailles und Russischem Oktober korrigieren wollte und gleichzeitig seinen Chauvinismus und Antisemitismus tödlich über Europa, Nordafrika und Asien zu stülpen suchte. Das wäre allerdings ein neues Kapitel, das vielleicht mit dem Ende des Kalten Krieges und der staatlich organisierten radikalen Linken geendet haben könnte.
Jupp Schleifstein hatte kurz nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus auf die Gemeinsamkeiten der Krisen der Linken ab 1914 und ab 1989 verwiesen (Schleifstein 1990/2012). Dieser Ansatz ist anregend. Denn von der radikalen Linken damals im harten Ringen in Gestalt kommunistischer Parteien und sich sozialistisch verstehender Revolutionen gefundene Lösungen haben sich als so problematisch erwiesen, dass sie das Material für den Zusammenbruch 1989/91 lieferten. Unverkennbar ist allerdings, dass der Rückblick auf das linke Versagen 1914 vor allem hochaktuelle Fragen offenbart, auf die es wieder keine einfachen Antworten - zumal nach den anderen Ereignissen des 20. Jahrhunderts - gibt: Wie "staatstragend" darf linke Politik im Kapitalismus sein, wieweit kann sie mit den Herrschenden zusammengehen, ohne sich zu verbiegen? Kann im Interesse eines gesicherten Platzes in Gesellschaft und politischem System die Analyse der kapitalistischen Ordnung, ihres Profitprinzips wie ihres Expansionismus, ihres Imperialismus abgeschwächt werden? Bedeutet das Verlagern der expansiven Züge der Profitrealisierung weg von offener militärischer Gewalt zu den Formen struktureller, nicht zuletzt ökonomischer Gewalt ein Ende des Imperialismus? Wie ernst muss linke Politik ihren antimilitaristischen, friedensorientierten Anspruch nehmen, wo sind mögliche Zugeständnisse zu machen? Wie muss linke Politik zu jenen Begründungen für militärische Mittel stehen, in denen es um die Verteidigung von Demokratie, Menschenrechten oder um die Beseitigung der Unterdrückung anderer Völker und Gruppen geht? Kann Europa bei einem gegebenen Kräfteverhältnis ein linkes Projekt sein?
Die Ursachen und Kämpfe 1. Weltkrieges harren ihrer (Wieder-)Aneignung durch emanzipatorische Bewegungen. Manch gesicherte antiimperialistische Erkenntnis ist mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus leichtfertig begraben worden. Es ist eine Zeit des Kampfes um Frieden und eines Kampfes um das politische Profil einer Linken. Es ist aber auch die Zeit der verhängnisvollen Entwicklung von Fortschritts- und Demokratiefeindlichkeit, von Konterrevolution und Terror.
Anmerkungen
(1) Der Sozialist Alexandre Millerand trat 1899 in eine bürgerliche Regierung als Minister ein, fünf Jahre später trennte sich seine Partei von ihm. Seine Person und der Millerandismus standen um die Jahrhundertwende im Zentrum innerlinker Auseinandersetzungen nicht nur in Frankreich.
(2) Erklärung und Person stehen aber auch für die Zwiespältigkeit der Situation, dann Haase hatte sich vehement gegen die sozialdemokratische Unterstützung des Krieges gewandt. Die Führungsgremien votierten anders und der Ko-Vorsitzende (neben Friedrich Ebert) exekutierte die Beschlusslage.
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