Zum Hauptinhalt springen

Zur gegenwärtigen Diskussion zum Umgang mit der Geschichte der DDR

Positionspapier der AG Geschichte beim Landesvorstand DIE LINKE. Thüringen

I. Mit dem Ergebnis der Landtagswahl vom 14. September 2014 besteht eine denkbar knappe parlamentarische Mehrheit für einen Politikwechsel in Thüringen. An die Stelle der seit 24 Jahren regierenden CDU kann ein Reformbündnis aus LINKEN, SPD und Bündnis90/Die Grünen treten. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik würde DIE LINKE den Ministerpräsidenten eines solchen Bündnisses stellen. Hierin sehen wir eine große Chance für linke Politik, die nicht leichtfertig vertan sondern verantwortungbewusst wahrgenommen werden muss.

II. Die seit der Veröffentlichung der Anlage 1 zum Protokoll des 2. Sondierungsgespräches zwischen DIE LINKE Thüringen, SPD Thüringen und Bündnis90/Die Grünen Thüringen bundesweit geführte Diskussion zum Begriff "DDR-Unrechtsstaat" zeigt, dass auch 25 Jahre nach der friedlichen Revolution des Herbstes 1989 die Positionen und Auffassungen zum Charakter der DDR und dem Umgang mit ihrer Geschichte weit auseinandergehen. Die AG Geschichte beim Landesvorstand DIE LINKE Thüringen plädiert nachdrücklich dafür, die in dieser Debatte innerhalb der Partei bisher erreichten Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen und weiter zu entwickeln. In unserem Landtagswahlprogramm heißt es: "Wir sind uns aufgrund unserer eigenen Geschichte unserer eigenen politisch-historischen Verantwortung bewusst und unterstreichen, dass das im Namen der DDR geschehene Unrecht weder negiert noch relativiert werden darf." Diese Position steht in der Kontinuität des Außerordentlichen Parteitages der SED-PDS vom Dezember 1989, der unwiderruflich mit dem Stalinismus als System gebrochen hat. Wir bekräftigen, dass das staatssozialistische System der DDR aufgrund seiner fundamentalen demokratischen und ökonomischen Defizite den Anspruch einer Alternative zum kapitalistischen Profitsystem nicht einlösen konnte und deswegen vor der Geschichte ein für allemal gescheitert ist.

III. Wir betonen zugleich, der Begriff "DDR-Unrechtsstaat" ist kein Begriff der Partei DIE LINKE. Die unterschiedlichen Erfahrungen und Biographien in der DDR lassen sich nach unserer Ansicht nicht mit diesem undefinierten Begriff zusammenfassen, der aufgrund seiner eigenen Geschichte auf viele unserer Mitglieder und Sympathisanten wie ein gegen sie gerichteter politischer Kampfbegriff wirkt. Mit ihm wird die Aufarbeitung der DDR-Geschichte erschwert und blockiert, weil er Bekenntnis abverlangt, wo Diskussion und Erkenntnis gefordert sind.

Zudem provoziert der Unrechtsstaat-Begriff die in der DDR-Aufarbeitung wenig weiterbringende, aber nichtsdestotrotz berechtigte Frage nach seinem Verhältnis zu aktuellem staatlichem Unrecht, von Kriegseinsätzen bis zum massenhaften Grundrechtsverstoß durch eine sozialrepressive Gesetzgebung (Hartz IV).

Der Anspruch, die "Alltagsdiktatur schonungslos aufarbeiten" zu wollen berücksichtigt nur eine, wenngleich wichtige Richtung der wissenschaftlich-historischen DDR-Forschung. Die DDR in ihrer Gesamtheit ist nur zu verstehen, wenn neben den Strukturen und Mechanismen der SED-Diktatur auch deren durch die DDR-Gesellschaft gesetzten Grenzen zur Kenntnis genommen werden. Die DDR war eine Diktatur, aber nicht alles im DDR-Alltag war Diktatur. Eine wirkliche gesellschaftliche Aufarbeitung der DDR-Geschichte, auch als Beitrag zur demokratischen politischen Bildung, kann nach unserer Ansicht nur gelingen, wenn jede und jeder bereit ist, neben der eigenen auch die anderen Biographien zur Kenntnis zu nehmen und die hieraus resultierenden Positionen zu verstehen.

IV. SPD und Bündnis90/Die Grünen meinen aufgrund ihrer Sichten auf die Geschichte der DDR mit dem Begriff "DDR-Unrechtsstaat" deren fehlende strukturelle demokratische und rechtsstaatliche Legitimation. Die AG Geschichte empfiehlt den Mitgliedern unseres Landesverbandes, diese andere Sicht in einem möglichen Koalitionsvertrag zu akzeptieren. Wir selbst haben die betreffenden Defizite seit 1989/90 immer wieder kritisiert.

Es ist eine nicht zu bestreitende Tatsache, dass der DDR, die sich als eine "Diktatur des Proletariats" verstand, aufgrund unfreier Wahlen die demokratische Legitimation staatlichen Handelns fehlte. Das besagt nichts über die politisch-moralische Legitimität des Versuchs einer antifaschistisch-demokratischen sowie sozialistischen Alternative nach 1945 angesichts der von Deutschland ausgegangenen beiden mörderischen Weltkriegen, einschließlich dem vom deutschen Faschismus begangenen Völkermord an den europäischen Juden sowie den Sinti und Roma, zugleich aber war diese Alternative von Beginn an stalinistisch überformt. Deshalb konnten in der DDR Recht und Gerechtigkeit ein Ende haben, wenn die Partei(Führung) auf den verschiedenen Ebenen es für opportun hielt. Tatsächlich waren Recht und Gerechtigkeit für jene verloren, die sich nicht systemkonform verhielten. Das alles galt auch für SED-Mitglieder. Wenn wir darauf hinweisen, dass das Rechtssystem der DDR nicht auf das politische Strafrecht reduziert werden kann, so müssen wir jedoch zugleich kritisch benennen, dass das Rechtssystem der DDR den Einzelnen nicht vor staatlicher Willkür schütze.

V. Die AG Geschichte spricht sich dafür aus, in möglichen Koalitionsverhandlungen folgende Aspekte einzubringen, um neben der sozialdemokratischen und bündnisgrünen auch eine linke Handschrift im Koalitionsvertrag in der Geschichts-, Gedenk und Erinnerungspolitik kenntlich zu machen.

Notwendig ist eine Geschichts-, Gedenk- und Erinnerungspolitik, die der vielfältigen und widersprüchlichen Geschichte Thüringens im 19. und 20. Jahrhundert gerecht wird. In ihr finden sich demokratische, kulturelle und soziale Reformaufbrüche. Gegen sie richteten sich reaktionärer Kleingeist und Kulturreaktion. Beide Tendenzen Thüringischer Geschichte müssen im Interesse einer weiteren sozialen und demokratischen Entwicklung des Landes kritisch reflektiert werden.

Das dunkelste Kapitel der Geschichte Thüringens und Deutschlands, der deutsche Faschismus, darf in seiner Singularität nicht relativiert werden, auch nicht durch das Diktum von den beiden deutschen Diktaturen im 20. Jahrhundert.

Die Erinnerung an die Opfer des deutschen Faschismus und deren Leiden, aber auch an den antifaschistischen Widerstand, muss wachgehalten und immer wieder erneuert werden. Hierbei müssen die zahlreichenden Gedenkstätten, insbesondere Buchenwald und Mittelbau-Dora unterstützt und gefördert werden.

Die historische Entwicklung in Thüringen nach 1945 muss in den gesamteuropäischen Kontext des 20. Jahrhunderts einordnet werden. Deshalb sind die bestehenden Einrichtungen zur Erinnerung an die deutsche Teilung während des Kalten Krieges und die Opfer von Stalinismus und DDR-Unrecht langfristig zu unterstützen und fördern.

Den Opfern des NSU-Nazi-Terrors muss in Thüringen ein würdiger Gedenk- und Erinnerungsort gewidmet werden, der zugleich die notwendige Debatte um die in der Gesellschaft verankerten rassistischen Einstellungen sowie Denk- und Handlungsmuster befördert.

Dieses Positionspapier entstand im Ergebnis der Diskussionen in der AG Geschichte beim Landesvorstand DIE LINKE Thüringen.