1968: Ein globaler Aufbruch
Stellungnahme der Historischen Kommission der LINKEN
Die Ereignisse des Jahres 1968 stehen gegenwärtig im Fokus medialen und öffentlichen Interesses. Die Historische Kommission nimmt dies zum Anlass für folgende Stellungnahme:
1. Einleitung
"1968" ist eine Chiffre für die bis in die späten 1970er Jahre währende Epoche globalen gesellschaftlichen Aufbruchs. Weltweit gab es Protest- und Emanzipationsbewegungen:
In Westeuropa u.a. den "Pariser Mai" mit einem wochenlangen Generalstreik in ganz Frankreich, Fabrikbesetzungen in Italien und Studentenprotesten in der Bundesrepublik. In Osteuropa steht "1968" vor allem für den Versuch in der Tschechoslowakei, einen "Sozialismus mit menschlichen Antlitz" zu schaffen. Zudem ist "1968" ein Sinnbild für den weltweiten Widerstand gegen den Krieg der USA in Vietnam, für die antikolonialen Befreiungsbewegungen in der "Dritten Welt" und die Bürgerrechtsbewegung gegen Rassismus und Apartheid in den USA.
Mit dem Jahr 1968 verbinden sich für Linke im Westen und im Osten Deutschlands sehr unterschiedliche Erfahrungen. Während für viele, vor allem junge Menschen in der DDR der "Prager Frühling" und seine Niederschlagung prägend waren, dominierten im Westen die Erfahrungen der außerparlamentarischen Opposition. Rudi Dutschke resümierte später: "Im Rückblick war das entscheidende Ereignis des Jahres 1968 in Europa nicht Paris, sondern Prag. Damals waren wir unfähig, das zu sehen."
Die historische Tragik bestand darin: In einer Zeit, in der der Kapitalismus schwächelte, als der weltweite Protest gegen den Vietnamkrieg Millionen Menschen auf die Straße brachte und für eine sozialistische Utopie begeisterte, als die Gewerkschaften in Westeuropa auf dem Zenit ihres politischen Einflusses standen und sich auch die europäische Sozialdemokratie unter Willy Brandt, Bruno Kreisky und Olof Palme zwar langsam, aber doch nach links bewegte, kamen Leonid Breshnew und die anderen osteuropäischen KP-Chefs den "68ern" in Westeuropa politisch nicht einen Millimeter entgegen. Bekannteste Ausnahme für kurze Zeit: die Reformkommunisten der KPČ unter Alexander Dubček. Die Niederschlagung des Prager Frühlings sollte die Linke in Europa nie verwinden.
2. Traditionsbrüche und globale Dimensionen einer Revolte
In historisch fast einzigartiger Form verdichteten sich 1967-69 verschiedene Emanzipationsbewegungen zu einem globalen Aufbruch einer "Neuen Linken". Es waren vor allem drei unterschiedliche Entwicklungen, die in diesen Jahren zusammentrafen und sich gegenseitig beeinflussten: Eine gegen die "fordistische Fabrikgesellschaft" und ihren oft autoritären staatlichen Überbau gerichtete Revolte in den Ländern des kapitalistischen "Westens", der Versuch eines demokratisch-sozialistischen Ausbruches aus den bürokratischen Strukturen der post-stalinistischen Länder Osteuropas und das Erstarken der antikolonialen Befreiungskämpfe in den Ländern des "Südens".
Die Revolte im Westen
Das für den Antikommunismus wesentliche Bild eines freien und demokratischen Westens geriet unter dem Eindruck des brutal geführten Krieges der USA in Vietnam, der Aufstände gegen rassistische Diskriminierung in den USA und dem engen Bündnis westlicher Regierungen mit diktatorischen, zum Teil faschistischen Regimes (in Portugal, Spanien, Griechenland, aber auch Iran u.a.) in die Krise. In der Bundesrepublik kam die oft ungebrochene Kontinuität ehemaliger NS-Funktionsträger im Staatsapparat hinzu.
Die ideologische Krise des Antikommunismus schuf den Raum für die Entstehung einer neuen sozialistischen Linken. Diese verband sich in vielen Ländern mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung. Hinzu kam eine oft subkulturell geprägte antiautoritäre Jugendbewegung. Polizeiliche Repression und autoritäre Strukturen in Schule, Universität und Betrieb kollidierten mit neuen Formen jugendlichen Freizeitverhaltens.
Der Aufbruch im Osten
Die zweite Hälfte der 1960er Jahre war in Osteuropa gekennzeichnet durch den Versuch, eine effektive Verbindung von Plan und Markt auf wirtschaftlichem und technologischen Gebiet zu schaffen, um gegenüber dem Westen aufzuholen, nachdem die auf zentraler Planung beruhenden Siebenjahrpläne sämtlich gescheitert waren, am spektakulärsten in der Sowjetunion und der DDR.
Die Reformen der Ulbricht-Ära sahen mehr Rechte für die Gestaltung des Produktionsprogramms durch die Betriebe vor und führten zu einer größeren innerbetrieblichen Mitbestimmung. Ein Wandel, der von den Belegschaften begrüßt wurde und gleichzeitig von offizieller Seite gewünscht war, rechnete man doch mit einer entsprechenden Produktivitätssteigerung.
Mit "Reformen von oben" gelang es der DDR-Führung auch, die aufkeimende Unruhe unter den Studenten zu kanalisieren. Die "von oben" angeschobene dritte Hochschulreform entwickelte eine Eigendynamik: Verkrustete Strukturen wurden aufgebrochen, die Studenten gewannen zum Teil weitreichende demokratische Mitbestimmungsrechte, die allerdings später zum großen Teil wieder zurückgenommen wurden.
In der Tschechoslowakei legte Parteichef Antonín Novotný eine zögerliche Haltung gegenüber der (schrittweisen) Einführung von Reformen an den Tag. Das führte zu seiner von unten erzwungenen Ablösung durch Dubček im Januar 1968, womit der "Prager Frühling" ausgelöst wurde. Hoffnungen auf einen demokratischen Sozialismus, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", keimten in der Folge bei vielen Menschen in Osteuropa. Sie hofften, dass den Wirtschaftsreformen auch eine Demokratisierung des Realsozialismus folgen würde.
In der DDR und in Ungarn wurden die Wirtschaftsreformen zügig angegangen. Dies entsprach den Erwartungen der Beschäftigten und aller Veränderung anstrebenden Kräfte. Es gab daher kaum Anlass für einen "Berliner" oder "Budapester Frühling". Die Reformen wurden in der DDR bis Ende 1970 bzw. in Ungarn bis 1974 fortgeführt. Ihr Scheitern dort hatte mit der gewaltsamen Beendigung des "Prager Frühlings" unmittelbar nichts zu tun.
Dessen Niederschlagung zerstörte jedoch nachhaltig Vertrauen, auch in der DDR. Marxistische Oppositionelle wie Robert Havemann oder Rudolf Bahro waren so empört, dass sie in den Westmedien gegen die Parteiführung auftratten. Bahro bezeichnete sein 1977 erschienenes Hauptwerk "Die Alternative" als "Antwort auf die Panzer von Prag". Auch bei den Christen in der DDR regte sich Protest. Die Kirche Berlin-Brandenburg protestierte im Herbst 1968 gegen den Einmarsch von Truppen der Warschauer-Vertragsstaaten in die Tschechoslowakei. In einem Brief an die "böhmischen Brüder", der als Kanzelabkündigung verlesen wurde, hieß es: "Wir leiden mit Euch darunter, dass noch immer militärische Mittel eingesetzt werden, um politische Fragen zu lösen."
Während in Jugoslawien die "Praxis-Gruppe" nach Verbindungen zum kritischen Marxismus des Westens suchte und auch in Belgrad Studenten die Fakultäten besetzten, blieben in Polen im März 1968 die landesweiten Studentenproteste für Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die Wahrung der weiteren Bürgerrechte weitestgehend isoliert. In die aufgeheizte Stimmung mischte sich offener Antisemitismus, der von Teilen der Parteiführung und des Geheimdienstes geschürt wurde. Juden, darunter viele Parteimitglieder und -veteranen, verloren ihre Arbeitsplätze, und wurden aus dem Land gedrängt. In den folgenden Jahren verließen etwa 20 000 Polen jüdischer Herkunft ihr Heimatland.
Die antikolonialen Kämpfe
Als im Januar 1968 vietnamesische Befreiungskämpfer US-amerikanische Bodentruppen in Saigon und anderen südvietnamesischen Städten angriffen, wurde der Welt demonstriert: Die größte Supermacht der Welt, die USA, kann herausgefordert werden. Dies inspirierte nicht nur die Anti-Kriegs-Bewegung im Westen. Auch die antikolonialen Kämpfe der "Dritten Welt" erhielten einen neuen Aufschwung, der u.a. in der staatlichen Unabhängigkeit der verbliebenen portugiesischen Kolonien in Afrika in den 1970er Jahren mündete. Die Studentenproteste anlässlich der Olympischen Spiele 1968 in Mexiko, die Entstehung linker Guerilla-Gruppen und der Aufschwung sozialer Bewegungen in Lateinamerika verdeutlichen die globale Dimension der Revolte.
3. 1968 in der Bundesrepublik
"1968" waren in der Gesellschaft der damaligen Bundesrepublik tiefgreifende Traditionsbrüche vorausgegangen, ausgelöst etwa durch die Auschwitzprozesse, die Frauenbewegung und die Heimkampagne der APO (angestoßen durch die Journalistin Ulrike Meinhof), aber auch durch ein neues Denken in der Kirche: Bereits 1965 war es auf dem Evangelischen Kirchentag in Köln zu einem "kleinen Aufruhr" (Die Zeit) gekommen, als Dorothee Sölle in einem Vortrag ein politisches Christentum forderte.
Die Bewegung von 1968 wird in Westdeutschland hauptsächlich als eine Revolte der Studenten wahrgenommen. Tatsächlich prägten diese die Bewegung. Die Demonstrationen aus Anlass der Ermordung Benno Ohnesorgs, der große Vietnam-Kongress des "Sozialistischen Deutschen Studentenbundes" (SDS) und die Proteste gegen die Hetze der Springer-Presse gingen von Studenten aus. Aber auch Schüler, Auszubildende und Gewerkschafter, die sich der politischen Bewegung neu angeschlossen hatten, wurden für ihre Interessen aktiv. Die Lehrlingsbewegung, die "wilden Streiks" von 1969 oder die Welle migrantischer Arbeitskämpfe in den nachfolgenden Jahren wären ohne die Erfahrungen des Jahres 1968 nicht möglich gewesen. In den Protesten gegen die "Notstandsgesetze" fanden Studenten- und Arbeiterbewegung kurzzeitig zusammen.
Die Forderungen, die im Mittelpunkt der 68er-Bewegung standen, waren generationsübergreifend. Es ging um eine demokratische Bildungs- und Hochschulreform, die jedem - ungeachtet seiner sozialen Stellung und Herkunft - alle Bildungswege öffnen und die Mitbestimmung von Lernenden und Studierenden garantieren sollte. Die "68er" forderten mehr Demokratie im Betrieb, in der Wirtschaft und in der Politik. Sie setzten sich für internationale Solidarität ein. Sie waren für Abrüstung und Frieden, für die Ächtung der Atomwaffen, gegen Blockkonfrontation. Sie protestierten gegen die damalige "law and order"-Politik in Form der Notstandsgesetze. Darüber hinaus wurden sie gegen personelle Kontinuitäten ehemaliger Nazis und gegen die NPD aktiv.
Die "68er" haben viel erreicht. Die von oben geplante "Hochschulreform" wurde verhindert und stattdessen die Mitbestimmung der Studenten, der akademischen und sonstigen Mitarbeiter durchgesetzt. Eine "Bildungsexpansion" wurde in Gang gesetzt. Die "68er" erzeugten eine Politisierung, die weit über die Studentenbewegung hinausging und linke Parteien erstarken ließ.
Auch die Debatten um sexuelle Selbstbestimmung erhielten 1968 einen deutlichen Schub.
4. Fünfzig Jahre später
Trotz aller Erfolge der Revolte: Die emanzipatorischen Visionen von 1968, einer freien, demokratischen und sozialistischen Gesellschaft, wurden nicht Realität, viele Errungenschaften der damaligen Zeit wurden wieder zurückgenommen. Marxistische Wissenschaft hat an Hochschulen kaum noch Platz. Betriebliche Demokratie ist auf dem Rückzug. Errungenschaften der Frauenbewegung werden in Frage gestellt. Rechtsextreme und die NS-Zeit verharmlosende Politiker sitzen wieder in Parlamenten. Trotz aller Erfolge der antikolonialen Befreiungskämpfe dauert die Ausbeutung der Länder des Globalen Südens an.
Einige Forderungen der 68er wurden aufgegriffen, aber vor dem Hintergrund der (Teil-) Niederlagen der 1970er Jahre in ihr Gegenteil verkehrt. Aus der Forderung nach einer freien Gestaltung des Lebens ist der Zwang zur Flexibilität geworden. Aus dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben wurde der Zwang zur Selbstverwertung. In der Alternativkultur entwickelte Formen der Produktion prägen unter umgekehrten Vorzeichen als angeblich "flache Hierarchien" moderne Formen der Ausbeutung.
Der "Marsch durch die Institutionen" einiger "68er" hat diese ebenso von den eigentlichen Zielen der Bewegung entfernt wie diejenigen, die in der Sackgasse des bewaffneten Kampfes der RAF gelandet sind. Ähnliches gilt für die oft dogmatischen und autoritär strukturierten maoistischen Organisationen der 1970er Jahre.
Das wesentliche Emanzipationsversprechen von 1968 - ein demokratischer Sozialismus - ist bis heute nicht erfüllt.
Es ist an der LINKEN, die Traditionen des Aufbruchs von 1968 jenseits von Staatssozialismus und Kapitalismus zu verteidigen und aus den Fehlern wie den Erfolgen der Bewegung zu lernen.
Diese Stellungnahme basiert auf einer Ausarbeitung von Marcel Bois und Florian Wilde vom April 2008. Sie wurde in der Historischen Kommission am 24. März und 5. Mai 2018 erneut diskutiert, von Alexander Amberger, Karsten Krampitz und Jörg Roesler überarbeitet und ergänzt und am 12. Juni 2018 vom Sprecherrat verabschiedet.