Die revolutionäre Geburtsstunde der deutschen Demokratie
Erklärung des Sprecherrates der Historischen Kommission der Linken zum 90. Jahrestag der deutschen Revolution von 1918/19
Vor 90 Jahren ereignete sich in Deutschland die Revolution, die den Ersten Weltkrieg beendete und unter dem Namen "Novemberrevolution" in die Geschichte eingegangen ist. Sie begann am 4. November 1918 mit dem erfolgreichen Matrosenaufstand in Kiel, stürmte binnen weniger Tage die dynastischen Residenzen der föderalen Staaten des Deutschen Reiches und kulminierte am 9. November im machtvollen Massenstreik des Berliner Proletariats, der Kaiser Wilhelm II. zur Abdankung zwang und die preußische Monarchie stürzte.
Die deutsche Revolution von 1918/19 war Teil der Weltkriegsrevolutionen in Mittel- und Osteuropa. Diese bewirkte den Zusammenbruch der aus der "Heiligen Allianz" von 1815 überkommenden Autokratien des Kontinents, indem sie Russland, Österreich-Ungarn, Deutschland und somit das Europa des 19. Jahrhunderts umwälzten. Vom Rhein bis Wladiwostok, vom Baltikum bis zum Balkan entstand ein neues Staatensystem. Die Weltkriegsrevolutionen wurzelten in der allgemeinen Erschöpfung der am Krieg 1914 bis 1918 beteiligten Völker, in deren Bestrebungen nach Demokratie und nationaler Unabhängigkeit – nicht zuletzt auch der Einsicht der arbeitenden Klassen in die Friedensunfähigkeit der expansiven und kriegsgewinnlerischen Wirtschaftsunternehmen, ihrer imperialistisch agierenden Regierungen und Militärführungen. Mit den Forderungen nach Frieden ohne Annexion und Kontribution, nach Demokratie, Bodenreform und Sozialisierung nahmen diese Volksbewegungen im Vergleich zu allen früheren Revolutionen einen epochal neuen Charakter an. Die Friedensforderung wandte sich gegen den imperialistischen Krieg, und die Sozialisierungsforderung stellte die gesellschaftspolitische Systemfrage. Zwischen Oktober 1917 und August 1919 konstituierten sich Räterepubliken, die in Russland langfristig, in anderen Ländern nur zeitweilig währten. In Ungarn kam es erstmalig zu einer Regierungsbildung, in der sich Sozialdemokraten und Kommunisten vereinigten.
Es war Deutschland, wo der Revolution eine kontinentale Schlüsselrolle für die Gestaltung der Nachkriegsverhältnisse zukam. Das industriekapitalistische und kulturelle Entwicklungsniveau der Gesellschaft sowie die Reife und Organisiertheit der Arbeiterschaft eröffneten die historische Chance, unter dem politischen Einfluss der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften nicht nur die Überreste des Feudalismus vollständig zu beseitigen. Auch die sozialen Negativwirkungen des Kapitalismus waren zu begrenzen, wenn öffentliche und staatliche Kontrolle der Verfilzung von Wirtschaft, Militär, Parteien und Staatsregierung entgegenwirkten. In Gestalt der Räte schufen spontan tätige Volksmassen neue Organisationsformen, die potenziell im Stande waren, die ohnehin beabsichtigte bürgerlich-parlamentarische Demokratie durch Institutionen konsequenter Volkssouveränität zu ergänzen und zu vertiefen.
Adel und Bürgertum waren infolge der Kriegsniederlage diskreditiert und der Volksrevolution paralysiert. Die Initiative lag allein bei der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. Diese waren ideologisch in verschiedene Richtungen gespalten. Aber die von den SPD-Führern begriffene Logik des Staatskapitalismus, die beispielhafte Wirkung der russischen Oktoberrevolution auf die deutschen Linken und das Veränderungspotenzial in der sozialdemokratischen Basis eröffnete die Chance für eine tief greifende sozialorientierte Demokratisierung der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands.
Indes rief diese denkbare, als tendenzielle Triebkraft auch wahrnehmbare historische Alternative alle Kräfte der Gegenrevolution hervor. Unter der politischen Verantwortung der sozialdemokratischen Provisorischen Regierung von Ebert, Scheidemann und Noske konnte es gelingen, die Revolution mit dem Geld der Wirtschaft und der Waffengewalt des weißgardistischen Militärs auf ungehemmt bürgerlich-kapitalistische Strukturen und Ziele zu begrenzen. Obwohl die Schaffung der Republik und liberalistischer Neuerungen des Rechts einen tatsächlichen Fortschritt bedeuteten – das Verfehlen maximal-demokratischer Möglichkeiten der Revolution ist als tragisch zu bewerten. Wurde die russische Sowjetrepublik von der kommunistischen Ein-Partei-Diktatur eingeschränkt und dominiert, so wurden die Rätebewegungen und Räterepubliken der anderen Länder von der Gegenrevolution liquidiert.
Weichenstellung zwischen Revolution und Gegenrevolution
Die Initiative zum historischen Neubeginn am Ende des bisher verheerendsten aller Kriege ging von dem unter Lenins Einfluss stehenden linken Mehrheitsflügel der russischen Sozialdemokratie, den Bolschewiki aus. Die russische Revolution beeinflusste das Denken und Handeln aller politischen Gruppierungen in Europa. Für die einen war sie Leitbild, für die anderen ein Schreckensszenario.
Die politischen Massenstreiks im Januar 1918 waren der Anfang vom Ende der Monarchien der Mittelmächte. Von nun an bereiteten die revolutionären Betriebsobleute mit ihrem Zentrum in Berlin den bewaffneten Aufstand zum Sturz der Monarchie und der Militärdiktatur vor. Nach der gescheiterten Sommeroffensive an der Westfront 1918 brach die militärische Disziplin zusammen. Im Herbst 1918 schlug die Kriegsmüdigkeit der Zivilbevölkerung in revolutionären Unmut um. In dieser Situation förderte die junge Sowjetrepublik die Organisation der revolutionären Kräfte. Doch die deutsche Revolution war das Zusammenspiel von plötzlichem Autoritätsverlust der monarchischen Regierung, absoluter Kriegsverweigerung und spontanem Aufstand. Die von der Matrosenmeuterei in Wilhelmshaven seit dem 4. November 1918 über das ganze Reich rollende Welle der spontanen Machteroberung durch die revolutionären Massen kam dem organisiertem Aufstand zuvor. Hierin lag ihre unwiderstehliche Stärke und zugleich ihre Schwäche, denn in das Machtvakuum stießen die ihrer Zusammensetzung und Zielstellung nach sehr heterogenen und widersprüchlichen Arbeiter- und Soldatenräte.
Militärführung und Regierung hatten am 29. September versucht, der Revolution zuvor zukommen in dem sie beschlossen, die Regierungsgewalt und damit die Verantwortung für die Kriegsniederlage und die Waffenstillstandsverhandlungen in die Hände der Parteien der Reichstagsmehrheit zu legen. Dieser Staatsstreich von oben machte aus Deutschland über Nacht eine parlamentarische Monarchie und setzte auch die Sozialdemokratie in die Regierung ein. Die Übertragung dieser Verantwortung am 3. Oktober 1918 reichte der SPD-Führung als Reform des politischen Systems aus. Das änderte sich auch nicht, als US-Präsident Wilson am 24. Oktober als Vorbedingung für den Waffenstillstand die Abdankung des Kaisers forderte. Selbst als bewaffnete Massendemonstrationen der Berliner Arbeiterschaft am 9. November in Berlin dem Kaiserreich den Todesstoß versetzten, und Philipp Scheidemann die demokratische Republik ausrief um der Proklamation der sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht zuvor zukommen, schalt ihn sein Amtskollege Friedrich Ebert, beide Vorsitzende der SPD, für diesen Vorstoß. Ebert hasste nach eigenen Worten die Revolution "wie die Sünde". Nur widerwillig nahmen Ebert und Scheidemann einen Tag später das Mandat des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates an, als Volksbeauftragte, die provisorische Revolutionsregierung zu führen. Denn Ebert verstand sich als Reichskanzler, der die Regierungsgewalt bereits am Mittag des 9. November von seinem Vorgänger, dem Prinzen Max von Baden übernommen hatte. Seine Befangenheit in den bürgerlichen Demokratie-Traditionen des 19. Jahrhunderts aber auch der Druck der Ententemächte, den Frieden nur mit einer gemäßigten sozialdemokratischen Regierung zu schließen, war der Grund, weshalb er seine Regierungsmacht nicht auf die bewaffnete revolutionäre Gewalt der Arbeiter- und Soldatenräte stützte, sondern auf die konterrevolutionäre Gewalt der kaiserlichen Generale, ihrer Berufsoldateska und Freikorps.
Wie wenig Deutschland vor der Gefahr einer bolschewistischen Diktatur stand, bewiesen die Entscheidungen des Reichsrätekongresses am 19. Dezember in Berlin. Neben der Aufhebung des Belagerungszustandes, einer Amnestie, der Abschaffung der Zensur, der Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für Männer und Frauen ab dem 20. Lebensjahr, der Presse-, Rede und Versammlungsfreiheit befürwortete der Kongress Wahlen zur Nationalversammlung und verzichtete damit auf die Macht. Die Linke um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg war auf dem Kongress nur marginal vertreten, obwohl ihr das Verdienst zukam, den Boden für die Antikriegsproteste bereitet zu haben. Und dennoch hintertrieb Ebert die viel wichtigere Entscheidung des Reichsrätekongresses, sich die Kontrolle über Streitkräfte zu sichern, deren kaiserliche Oberbefehlshaber ihm allein ihre Loyalität versichert hatten. Mehr noch als die Arbeiterräte setzten sich die Soldatenräte aus allen Volksklassen und -schichten zusammen und waren erst recht keine Träger kommunistischen Bewusstseins. Unternehmerverbände und Gewerkschaften hatten sich schon vom 9. bis 12. November auf die künftige Gestaltung der Wirtschaft geeinigt. Die Gewerkschaften garantierten dem Unternehmertum ihren Verzicht auf die Sozialisierung und die Gewerkschaften sicherten sich die Alleinvertretung der Arbeitnehmerinteressen, den Achtstundentag und die Verbesserung der Sozial-, Alters- und Erwerbslosenversicherung. Damit waren die Weichen für die künftige Entwicklung Deutschlands gestellt.
Trotz wichtiger demokratischer und sozialer Reformen behielten die alten Eliten Preußens und das Großkapital weiter ihre uneingeschränkte wirtschaftliche Macht und damit politischen Einfluss. Das löste den zweiten Aufstand aus. Im Dezember kam es in Berlin aus nichtigen Anlässen zu bewaffneten Kämpfen zwischen regulären regierungstreuen Truppen und der Volksmarinedivision, die Todesopfer forderten. Hinter diesen Kämpfen offenbarte sich der zentrale Konflikt zwischen provisorischer Regierung und Räten. Im Gefolge dessen verließen die ohnehin einflusslosen Unabhängigen Sozialdemokraten den Rat der Volksbeauftragten und gaben damit die letzte Machtposition preis. Die Entlassung des linksorientierten Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD) durch die preußische SPD-Regierung am 4. Januar 1919 gab in der psychologisch angespannten Situation den Anstoß zu einem erneuten Aufstand, der als "Spartakuswoche" (10.-15. Januar) in die Geschichte einging. Die inkonsequente Führung der Aktion wurde von Rosa Luxemburg heftig kritisiert, die ihrerseits unter dem Eindruck der Massendemonstration vom 5. Januar 1919 kurzzeitig an einen Erfolg glaubte. Als klar wurde, dass der Aktion der Erfolg versagt blieb, plädierte sie gegen Karl Liebknecht für einen Abbruch des Aufstandes. Die eben erst gegründete KPD war dieser Situation noch nicht gewachsen. Es bedurfte einiger Jahre, ehe sie Einfluss auf politische Entscheidungen gewinnen konnte.
Die Regierung Ebert/Scheidemann schickte mit ihrem Volksbeauftragten für Heer und Marine, Gustav Noske, jenen Mann vor, der sich selbst als "Bluthund" sah, um die Autorität der provisorischen Regierung herzustellen. Ebert, Scheidemann und Noske konnten sich dabei auf die inzwischen organisierte Gegenrevolution stützen, die von der Antibolschewistischen Liga koordiniert und mit 500 Millionen Mark der deutschen Wirtschaft finanziert wurde. Das Geld floss in die Formierung von Freikorps, Bürgerwehren, Propaganda und Mordkommandos. Unter dem Kommandeur der Gardekavallerieschützendivision, Hauptmann Waldemar Pabst, wurde der Aufstand niedergeschlagen und die führenden Linken liquidiert.
Nach der Wahl zur Nationalversammlung sah die sozialdemokratische Führung die Legitimität der vorrevolutionären Reichstagsmehrheit wieder hergestellt. Für die Räte hingegen war die Nationalversammlung allein ein von ihnen beschlossenes und zu kontrollierendes, nicht aber gegen sie gerichtetes Parlament. Dieser Konflikt der Doppelherrschaft von Parlament und nach wie vor bewaffneten Räten war die Ursache des Bürgerkrieges in Deutschland, der sich bis zur Niederschlagung der Bayrischen Räterepublik Anfang Mai 1919 hinzog. Unter dem Kommando Noskes und der politischen Verantwortung Eberts und Scheidemanns schritten die Freikorps, aus denen sich später die SA und SS rekrutierte, mit beispielloser Brutalität zur Entwaffnung der revolutionären Arbeiter und zur Auflösung der Räte.
Fazit
Im Gegensatz zu den Identifikation stiftenden Revolutionen anderer Völker erschien die deutsche Revolution von 1918/19 in den historischen Wertungen und Erinnerungen nicht als Ruhmesblatt. De facto war die Weimarer Republik, die erste bürgerlich-demokratische Ordnung Deutschlands, von keiner Partei ernstlich gewollt. Die Konservativen setzten auf Restauration. Das bürgerliche Lager, einschließlich der sozialdemokratischen Führung verabscheute die volksrevolutionäre Art ihres Zustandekommens. Veteranen der Arbeiter- und Soldatenräte und linker Gewerkschaftsgruppen hätten lieber eine Kombination von Parlamenten und Räten gesehen. Die kommunistische Linke wollte die alleinige Rätemacht.
Die deutsche Revolution 1918/19 war die erste Revolution in einer großindustriellen Gesellschaft. Mit der bestorganisierten Arbeiterschaft der Welt und der politisch erfahrensten Sozialdemokratie und Gewerkschaft bestanden die Voraussetzungen für eine Vertiefung der tradierten bürgerlich-parlamentarischen Demokratie durch eine soziale Demokratie. Erstmals bestand die historische Chance, das Freiheitsversprechen der französischen Revolution durch deren Solidaritätsversprechen zu ergänzen. Mit der Rätedemokratie schuf das Proletariat spontan eine Form der direkten Selbstverwaltung, deren verfassungsrechtliche Integration in die parlamentarische Demokratie denkbar war. Gleichermaßen entsprach die Sozialisierungsforderung dem hohen Vergesellschaftungsgrad der Wirtschaft. Derartige Ansätze scheiterten an der politischen Polarisierung der sozialistischen Arbeiterbewegung.
Unter dem Eindruck des fundamentalistischen Bruchs der russischen Oktoberrevolution mit der Vergangenheit und potenziell möglichen ähnlichen Entwicklungen in Deutschland organisierte sich hier die Gegenrevolution vom konservativen bis zum sozialdemokratisch gemäßigten Flügel. Geleitet von den Sachzwängen der Kriegsniederlage wie Friedensbedingungen, Umstellung der Kriegs- auf Friedenswirtschaft und Interventionsgefahr, geprägt von den tradierten bürgerlichen Demokratieauffassungen des 18. und 19. Jahrhunderts erkannten die gemäßigten Sozialdemokraten und Gewerkschafter weder die Notwendigkeit des radikaldemokratischen Bruchs mit den aristokratischen Machtpositionen geschweige denn den demokratischen Neuansatz der Räte. Die strikte Ablehnung außerparlamentarischer Masseninitiativen der eigenen Basis, die absolute Unterordnung unter die verfassungsrechtliche Legalität und die daraus resultierende Abhängigkeit von der monarchischen Exekutive hinderte die sozialdemokratische Führung an einer konsequenten Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution. Die Führungsschwäche der USPD und der mangelnde Kampfgeist ihrer Führungskräfte führten zum vorzeitigen Rückzug aus wichtigen Machtpositionen. Die Fehleinschätzung der historischen Situation durch die radikale Linke und deren Maximalismus bewirkten deren Isolation. Der Niedergang der Revolution war zudem auch von außen beeinflusst. Das Friedensdiktat der Siegermächte stärkte die Gegenrevolution. Die russische Oktoberrevolution verlor ihre Funktion als Initialzündung einer europäischen Revolution. Ihr schrieb Rosa Luxemburg 1918 ins Stammbuch: "In Russland konnte das Problem (die Verwirklichung des Sozialismus – die Verf.) nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden."
Die Erklärung des Sprecherrates stützt sich auf Texte von Hartmut Henicke und Mario Hesselbarth.