Eine historische Chance
Erklärung der Historischen Kommission der LINKEN zum 8. Mai 1945
In den Nachtstunden vom 8. zum 9. Mai 1945 kapitulierten in Berlin-Karlshorst die Befehlshaber der Streitkräfte des faschistischen Deutschland vor den Vertretern der alliierten Siegermächte Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich. Schon einen Tag zuvor hatte eine Kapitulationsvereinbarung in Reims stattgefunden, die nun in Anwesenheit der höchsten Vertreter aller alliierten Streitkräfte endgültig ratifiziert wurde. In Europa gingen fast sechs Jahre eines blutigen Krieges zu Ende, vier Monate später kapitulierte am 2. September auch das mit Deutschland verbündete Japan. Die Anti-Hitlerkoalition hatte gesiegt. Sie war ein Bündnis, in dem sich die Beteiligten misstrauten und gleichzeitig brauchten. Sie waren sich für einen historischen Augenblick um des Überlebens willen einig. Der Sieg über Nazideutschland und seine Verbündeten war eine Befreiung der Völker Europas und der Welt von dem Versuch der deutschen Eliten in Wirtschaft, Politik und Militär mit Hitler, zum zweiten Mal die Weltherrschaft ins Visier zu nehmen.
Schon 1944, insbesondere aber in den ersten Wochen des Jahres 1945 wurden mehrere europäische Großstädte und weite Regionen Europas von der deutsch-faschistischen Okkupation befreit. Der 8. Mai 1945 steht für die Eroberung Berlins durch die Rote Armee, die vier Jahre lang die Hauptlast des Krieges in Europa zu tragen hatte, auch wenn das vor dem Hintergrund späterer und heutiger Konflikte und Kriege gerne verdrängt wird. Es war ein bitter erkaufter Sieg einer Armee der vielen Nationen und Nationalitäten: Russen, Ukrainer, Belorussen, Litauer, Juden, Kasachen, Turkmenen und vieler anderer. Auch die polnische Armee war an der Eroberung der „Reichshauptstadt“ beteiligt. Der 8. Mai 1945 beendete einen beispiellosen Vernichtungs- und Weltanschauungskrieg. Mit 6 Millionen ermordeten Juden unterschiedlichster Staatsangehörigkeit hatte diese Volks- und Religionsgruppe besonders zu leiden, aber nicht nur sie. Der Krieg kostete 27 Millionen Sowjetbürgern, 6 Millionen Polen, 1,7 Millionen Angehörigen der Völker Jugoslawiens, ca. 14 Millionen Chinesen, aber auch 6,5 Millionen Deutschen das Leben. Weltweit kostete dieser Krieg 65 Millionen Menschenleben.
Das deutsche Volk hatte es nicht geschafft, sich der faschistischen Diktatur aus eigener Kraft zu entledigen. Nur eine Minderheit kämpfte in kommunistischen, sozialdemokratischen, christlichen und bürgerlichen Widerstandsgruppen in Nazideutschland und im Exil. Sie waren Teil der alliierten Anti-Hitlerkoalition. Aber der Sturz des Naziregimes musste von außen und mit militärischer Gewalt erfolgen. Die Befreiung bot auch den Deutschen eine historische Chance. In Jalta und in Potsdam hatten die „Großen Drei“, die alliierten Hauptmächte Sowjetunion, USA und Großbritannien die Grundregeln für ein künftiges Deutschland aufgestellt: Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung und Demokratisierung. Es entstanden in Deutschland aber auch spontan basisdemokratische Strukturen und Aktionsbündnisse, deren selbstbewusstes Engagement jedoch vielfach allen Besatzungsmächten nicht ins Konzept passte. Alsbald sorgte der aufkeimende Kalte Krieg für eine Unterordnung eigenmächtiger Aufbrüche unter die machtpolitischen Interessen und konträren Gesellschaftskonzepte der Siegermächte.
Bodenreform, Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher, eine umfassende Entnazifizierung in Wirtschaft wie Verwaltung und eine demokratische Schulreform waren der Versuch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der späteren DDR, die strukturellen Ursachen des Faschismus zu beseitigen. Infolge ihrer stalinistischen Überformung und der Art ihrer Durchsetzung wurde jedoch der antifaschistisch-demokratische Konsens zwischen den Arbeiter- und den bürgerlichen Parteien schweren Belastungen ausgesetzt.
Wiederherstellung der bürgerlichen Freiheiten, parlamentarische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie schließlich auch die europäische Integration waren die Antworten, die in den westlichen Besatzungszonen bzw. der frühen Bundesrepublik auf den Faschismus gegeben wurden. Die Beseitigung seiner strukturellen Ursachen, die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse, scheiterten trotz der hier ebenfalls vorhandenen Ansätze. Der antikommunistische Grundkonsens in der frühen Bonner Republik ermöglichte es einem Großteil der wirtschaftlichen und politischen Alt-Eliten, die das Nazi-Regime einst mitgetragen hatten, ihren gesellschaftlichen Einfluss zurückzugewinnen. Es brauchte 40 Jahre, bis in der Bundesrepublik der 8. Mai 1945 staatsoffiziell mit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker als Tag der Befreiung anerkannt wurde.
Ein Blick auf Europa in Ost und West zeigt, dass dieser antifaschistische, oft antikapitalistische Zug die Nachkriegsordnungen sowohl in Osteuropa wie in Westeuropa bestimmte, getragen vor allem von Angehörigen der Widerstandsbewegungen der Völker gegen den Faschismus Das Versagen der Vorkriegsregierungen, die Kollaboration von Teilen der wirtschaftlichen und politischen Eliten diskreditierten den Kapitalismus. Aber auch hier beendete der Kalte Krieg den Spielraum für mögliche alternative Wege.
Der Zusammenbruch der Achsenmächte und der Sieg der Alliierten erschütterten auch die Länder des globalen Südens. Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg, forderten die kolonial unterjochten Völker, die zum alliierten Sieg beigetragen hatten, ihre nationale Unabhängigkeit und sozialen Wandel. Letztlich wurden in den beiden folgenden Jahrzehnten die Landkarten neu gezeichnet, in Asien und Afrika entstanden souveräne Nationalstaaten, die sich teils am Gesellschaftssystem des Westens, vielfach aber auch an dem des Ostens orientierten
Im Jun i 1945 vereinbarten die Vertreter von 51 Nationen in San Francisco die Grundlagen einer internationalen Vertragsordnung, die der Vereinten Nationen. Ihre Charta war ebenso kühn wie anspruchsvoll. Zugleich war sie ihrer Zeit weit voraus. Auch die Geschichte der Vereinten Nationen blieb nicht unberührt von dem auf der internationalen Bühne tobenden Kalten Krieg. Zu den Widersprüchen der Geschichte gehört, dass zeitgleich und von den westlichen Mächten um die USA und Großbritannien vorangetrieben ein Kalter Krieg eingeleitet wurde. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki demonstrierten die Absicht, die bislang gute Zusammenarbeit mit der nun wieder als Konkurrent betrachteten sowjetischen Großmacht und ihrem Bündnis- und Einflusssystem zu lockern und schrittweise in eine Konfrontation mit dem Ziel zunächst der Eindämmung, später des roll back - der Zurückdrängung - überzugehen.
Zu den Lehren aus dem 8. Mai 1945 gehört: Nur das Zusammenwirken von sonst verfeindeten politischen Kräften und Staaten hat es ermöglicht, die Tyrannei des deutschen Faschismus und seiner Verbündeten in Rom und Tokio zu überwinden. Die Anti-Hitlerkoalition war letztlich ein Bündnis auf Zeit. Es sicherte während seines kurzen Bestehens ein Mindestmaß an Vertrauen, Empathie für Bündnisgenossen und praktische Solidarität. Eine Politik der Überlegenheitsansprüche und der ökonomischen und militärischen Konfrontation kann keine friedliche Weltordnung begründen.
Diese Erklärung wurde am 16. April 2025 vom Sprecherrat verabschiedet. Ausführlicher zum Thema siehe den Vortrag von Stefan Bollinger vor der Historischen Kommission am 22. März 2025.