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Konferenz "Epochenbruch 1914-1923"

1918-2018 - Nachdenken über ein europäisches Jubiläum

Dr. Thomas Falkner

Meine Damen und Herren,

ich freue mich, dass ich hier zu ihnen sprechen kann . Die Vorstellung hat ja schon gezeigt: Ich bin von Hause aus kein Historiker. Und ich werde natürlich auch jetzt nicht so tun, als wäre ich einer. Oder als wäre ich jemand, der aus der Perspektive der Politik alles besser wüsste. Was ich aber tun möchte - und so ist es auch abgesprochen - ist, mich mit ein paar Fragen zum Gegenstand zu melden, die eben jemandem wie mir kommen, der mindestens sein halbes Leben sehr nah an der Politik verbracht hat. NIcht als Entscheider, mehr als Ratgeber, als Zuarbeiter. Das mag manchem als eine sehr komfortable Position erscheinen - schließlich trägt man nie die direkte Verantwortung -, aber es prägt schon sehr den Blick. Den Blick auf Optionen - nicht auf das eine Ergebnis. Den Blick auf die Umstände von Entscheidungen, auf Abwägungen.

Jürgen Hofmann hat eingangs darauf angewiesen, dass dies erst die zweite Historische Konferenz unserer Partei ist. Das zeigt auch aus meiner Sicht, dass wir wirklich großen Nachholbedarf an geschichtlichem Wissen, an historischer Arbeit haben. Das betrifft natürlich - wie meist im Leben - nicht diejenigen, die hier sitzen. Aber dennoch ist es wichtig, sich diesem Befund zu stellen. Auch und gerade mit Blick auf die Periode, über die wir hier heute reden. Es gibt aus dieser Zeit so viele Dinge, die bis heute nachwirken und ohne deren Kenntnis man nicht verstehen kann, wo bestimmte Konflikte ihre Wurzeln haben und warum sie sich wie entwickeln. Und ohne dieses Wissen wiederum kann man nicht über Lösungen nachdenken.

Als ich mich auf unsere Konferenz heute vorbereitet habe, hatte ich eine ganze Reihe von Sozialdemokratischen Bildungsheften aus Nachkriegs-, aber auch der Vorkriegszeit in den Händen und war zutiefst beeindruckt: Was für eine Masse solcher Angebote gab es da, in welcher Breite von Themen und welche honorigen Leute, Politiker wie Gelehrte, haben dort geschrieben!

Genug der Vorrede. Manchmal ist unsere Partei doch nicht so geschichtslos, wie wir glauben. Nicht nur der Parteivorstand hat die Bedeutung der Nachkriegszeit 1918 bis 1923 erkannt, auch die Konferenz der Fraktionsvorsitzenden und der Landesvorsitzenden auf ihrer Jahrestagung letzten Dezember in Elgersburg in Thüringen. Wir verdanken dies einem Vorstoß meines Freundes Harald Pätzolt.

Auslöser war das Manifest der “Initiative 1918 - 2018” - initiiert von Markus Meckel und getragen von Historikern, Publizisten, Politikern und Künstlern aus 17 Nationen. Ihnen geht es um eine europäische Perspektive beim Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs.

Für Deutschland sollte man hinzufügen: Wir brauchen hier überhaupt erst einmal ein Gedenken an diesen Krieg, der gemeinhin als die “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts gilt - im kollektiven Gedächtnis und in der Erinnerungskultur der Deutschen bis auf wenige Ausnahmen aber kaum einen Platz hat. Wie es scheint, könnte Deutschland aber gerade in diesem Jahr und zu diesem Anlass von mehr als nur Peinlichkeiten überrollt und in Verlegenheit gebracht werden.

Im Manifest der “Initiative 1918 - 2018” heißt es:

“Etliche der gegenwärtigen Spannungen und Krisen erinnern an jene Schwierigkeiten, die durch die nach 1918 geschlossenen Friedensverträge gelöst werden sollten. Was damals ungelöst geblieben ist, erfährt heute erschreckende Aktualität.”

Und die Unterzeichner fragen dann:

“Lag der schweizerische Historiker und Diplomat Paul Widmer doch richtig, als er 1993 formulierte, Europa habe zwar die Folgen des Zweiten Weltkriegs leidlich bewältigt, laboriere aber weiter an denen des Ersten?”

Im Papier der LINKEN von Elgersburg 2017 wiederum heißt es mit Blick auf den Ausgang des Ersten Weltkrieges und die darauf folgende Nachkriegsordnung, es gebe dazu

“mehr als nur schmale Pfadabhängigkeiten heutiger deutscher und europäischer, besonders auch nachbarschaftlicher Probleme.”

“Fragen des politischen und kulturellen Selbstverständnisses, der nationalen Identität, werden von daher im kommenden Jahr in vielen Ländern ebenso hohe öffentliche Aufmerksamkeit finden wie die Reflexionen der Entwicklungen im Verhältnis der europäischen Staaten, damals im Krieg befindlich, seitdem und aktuell.”

Und schließlich wird die Linke - klein wie groß geschrieben - aufgefordert,

“in diesem europäischen Geschehen Verantwortung zu übernehmen”.

Einfach ist das für uns Deutsche freilich nicht.

Wir können nicht einfach die Sicht einzelner unserer Nachbarn übernehmen: Natürlich ist der Erste Weltkrieg für Frankreich oder Großbritannien bis heute der “Große Krieg” - sie hatten dort auch höhere Opferzahlen als im Zweiten Weltkrieg zu verzeichnen. Würden wir das zu unserer Sicht machen, würden wir - zu recht - den Eindruck erwecken, wir wollten Zweiten Weltkrieg und Holocaust dahinter verstecken und geschichtspolitischer Verantwortung ausweichen. Dass das nicht geht, macht schon ein Blick nach Osten deutlich: Für Russland, für viele Staaten der früheren Sowjetunion war der Zweite Weltkrieg der “Große Vaterländische Krieg”. Für die Staaten des Baltikums hingegen bedeutete dies den Verlust der Eigenständigkeit infolge des Hitler-Stalin-Paktes, während für unsere polnischen Nachbarn der Ausgang des Ersten Weltkrieges die Wiedererlangung der Staatlichkeit bedeutete - die Freiheit von nationaler Unterdrückung durch Deutschland, die Hitler wiederum kaum zwanzig Jahre später wiederherstellen wollte.

Auf nichts also kann man sich von Deutschland aus einseitig beziehen, ohne dann nicht an anderer Stelle alte Wunden aufzureißen und neue Besorgnis zu wecken. Und das gilt in gewisser Weise auch innenpolitisch.

Ich bin mir all dessen bewusst - und dennoch sehe ich eine ganz Reihe von Fragen, die, denke ich, auch aus politischer Sicht heute präziser gestellt und facettenreicher beantwortet werden müssen.

https://www.die-linke.de/I. Kriegsbeginn

Beginnen wir mit dem Anfang des Krieges, nicht mit seinem Ende. Eigentlich ist - oder war - doch mit dem Ausgang der Fischer-Debatte alles klar und Deutschland trug die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Und eigentlich war doch genau das schon im Versailler Vertrag kodifiziert worden.

Ich weiß, dass das alles eine schwierige Debatte ist - auch und gerade für Linke. Man muss nun Christopher Clark und seine These von den “Schlafwandlern” nicht mögen und soll sie auch kritisieren. Ich glaube allerdings, dass das, was er geschrieben hat, sehr wichtig und notwendig war. Ich glaube auch nicht, dass er wirklich die Absicht hatte, die Verantwortung Deutschlands für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs klein zu reden oder gar zu leugnen. Ich glaube vielmehr, dass er eher mit seiner Darstellung des Hineintaumelns in den Weltkrieg auf einen ganz wesentlichen Aspekt hinweisen wollte, der heute wieder von hoher Dramatik ist.

Lassen wir also Clark beiseite - und beziehen wir uns auf einen anderen Historiker, der der Linken deutlich näher steht. Jürgen Angelow hat bereits zwei Jahre vor Clark eine sehr kompakte Darstellung der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs vorgelegt - mit sehr ähnlichen Befunden. Angelow schreibt:

“Die Protagonisten in Politik und Diplomatie hatten die Transformation des europäischen Mächtesystems, der Bündnisse, Ententen sowie der zwischenstaatlichen Beziehungen im Sommer 1914 noch nicht analytisch durchdrungen und waren auf der Suche nach Konzepten.” [1]/typo3/

Was diesen unbewältigten Transformationsprozess ausmachte, erinnert durchaus an die Welt hundert Jahre später nach dem Ende der Ost-West-Block-Konfrontation:

“Das traditionelle europäische Mächtekonzert, das stimmfähige Großmächte und Staaten ohne Einfluss unterschied, hatte durch das Aufkommen internationaler Organisationen und das Mitsprachebedürfnis der außereuropäischen sowie kleineren Staaten an Bedeutung verloren. Gleichzeitig hatte der Internationalisierungsschub Gegenbewegungen herausgefordert, die sich in einer Aufwertung von Nation, nationalem Prestige und nationalen Alleingängen artikulierten.”/typo3//typo3/[2]

Wie blockiert durch diese Veränderungen hatte am Vorabend der Juli-Krise

“keine der europäischen Regierungen …  eine klare Entscheidung über die Mittel getroffen, mit denen sie künftigen Krisen begegnen würde."[3]"Neue Instrumente und Regeln … waren noch nicht an die Stelle der alten getreten. Zur Verhinderung von Kriegen bedienten sich die politisch-diplomatischen Netzwerke weiterhin eingeübter Mittel."[4]/typo3/

Angelow deutet dies jedoch auch als eine offene Situation:

“Da die in die Julikrise hineinführenden Tendenzen so widersprüchlich und gegenläufig waren, boten sie der europäischen Diplomatie weitreichende Entscheidungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, mithin eine Autonomie des Handelns, die wohl viel größer war, als vielfach angenommen.”/typo3//typo3/[5]

Der klare Blick auf dieses Spannungsverhältnis macht Angelows Analyse sowohl der Policy- wie auf der Akteursebene so spannend, so beklemmend und zugleich so brisant für praktizierende Politikerinnen und Politiker heute. Denn eben “nicht nur die dominierenden Konzepte und Mittel waren unvollkommen oder unzeitgemäß”, so der Autor, sondern “ebenso mangelte es an Talenten und Charakteren.”/typo3/[6] Und an anderer Stelle:

“Vielleicht markierte der Juli 1914 tatsächlich einen jener launenhaften Augenblicke der Weltgeschichte, in denen das Geschick ganzer Völker in die Hand von Individuen fällt, die mehr erschreckt als einsichtsvoll damit umgehen. Im Jahr 1914 scheiterten die handelnden Personen an der Aufgabe, eine, vielleicht sogar die historische Weichenstellung in Richtung einer globalisierten Welt mit friedlicher Streitschlichtung und internationalisierter Affektkontrolle zu vollziehen. Unsicherheit und mangelndes Vertrauen in die Zukunft, Zögern und Inkonsistenz haben sie daran gehindert, die Tür auch nur einen Spalt weit zu öffnen”.[7]

Erlauben Sie mir ein letztes Zitat - und zwar von zwei durchaus nicht linken Fachleuten über die Münchner Sicherheitskonferenz vor kurzem, einhundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Die Autoren schreiben im “Cicero”:

"Die Dialogfähigkeit der Teilnehmer scheint abzunehmen. Gerade die Europäer und insbesondere die EU-Mitglieder betonen ja gern ihre Dialog- und Konsensfähigkeit. Doch diesmal zeigten sie sich zerissener denn je. Dementsprechend ist die Selbstgerechtigkeit aller Teilnehmer massiv angestiegen. Das gilt auch für die Nato-Staaten und die Mitglieder der EU. Das Realitätsbewusstsein führender Politiker scheint getrübt.

Diese atmosphärischen Beobachtungen sind Reflex einer wachsenden Desorientierung in der Weltpolitik. Deutlicher denn je fehlt die ordnende Weltmacht USA. Und weil Europa zerrissen, ziel- und orientierungslos ist, richten sich derzeit alle Blicke auf China. Auch in München wurde deutlich: China mausert sich weiter zu einem unverzichtbaren Pfeiler globaler Ordnung. Die USA unter Trump zeigten wenigstens Ansätze zur Neuorientierung, wobei unklar ist, wohin die Reise führen wird, aber Europa verharrt in bekannter Haltung: große Versprechungen und wenig konkrete Ergebnisse. Die Zeichen in der Weltpolitik und in der westlichen Welt stehen deshalb weiter auf Sturm. Das hat die Münchener Sicherheitskonferenz auf beklemmende Weise deutlich gemacht."/typo3//typo3/[8]

Eine verstörende Parallelität, finde ich. Und gerade angesichts dessen bewegen einen eine ganze Menge von Frage, wenn man im politischen Raum tätig ist. Blicken wir auf die Geschichte: Was hat sich denn damals vollzogen in den Kanzleien, Amtsstuben und Kaminzimmern der damaligen Eliten? Was haben Menschen denn gemacht und gedacht, wie konnten ihre Abwägungen so in die Irre gehen? Abwägungen, die wir nicht teilen müssen, die die Entscheider damals doch aber staatsmännisch wie privat für verantwortungsbewusst gehalten haben? Wie konnten aus solchen Abwägungen so gravierende Fehlentscheidungen entstehen - und wie konnte es sein, dass offenkundige Fehlentscheidungen von solchem Ausmaß nicht einmal mehr korrigiert wurden? Gab es also eine eigene Rationalität, die diesen Entwicklungen zugrunde lag, und von der sich die handelnden Akteure nicht befreien konnten?

Also: Versagen in Verantwortung, seine Ursachen, seine Folgen - das ist ein großes Thema beim Rückblick auf den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegszeit. Aber, wie sich zeigt, es ist auch ein sehr aktuelles Thema: Wenn sich Umstände und Muster wiederholen, unter denen die Welt in ihre “Urkatastrophe” schlitterte, was bedeutet das dann für Linke heute? Was tun wir? Wo intervenieren wir? Wie? Womit? An wessen Seite?

https://www.die-linke.de/II. Die Sozialdemokratie

Auch hier scheint eigentlich alles klar. 1914 fällt die Sozialdemokratie spontan vom Glauben an die proletarische Internationale ab und stimmt ein in das nationalistische Kriegsgeheul - wovon sie sich eigentlich bis heute nicht frei gemacht hat. Es sei denn, man blickt auf ihre Abspaltungen - die USPD, die Spartakisten, die KPD … Was in dieser Geschichtssicht der Gewissheiten stets etwa untergeht: Diese Abspaltungen, die eigentlich mehr oder weniger die Dinge “richtig” gemacht haben, waren stets kleiner als die sozialdemokratische Stammpartei. Natürlich: An diesem Versagen in Verantwortung,  von dem hier die Rede ist, war sie seither maßgeblich beteiligt - und doch besteht diese Sozialdemokratie über Jahrzehnte als starke, manchmal stärkste Partei weiter. Unterschätzen wir vielleicht die lang anhaltende Wirksamkeit einer bestimmten politischen Rationalität, die sich bewährt, die nachvollziehbar ist, die aber auch politische Ungeheuer gebiert?

Was war denn los in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und in der sozialdemokratischen Partei im November 1914, als man den Kriegskrediten zustimmte - mit der Stimme Karl Liebknechts damals noch?! Sie kannten doch die Beschlüsse der Friedewalder Konferenz. Sie wussten doch, dass jetzt der Zeitpunkt zur Ausrufung des Generalstreiks gekommen war! Warum taten sie es nicht? Der nationalistische Furor in Deutschland ist keine wirklich überzeugende Begründung dafür. Wir wissen inzwischen recht genau, dass sich diese Stimmung im Wesentlichen auf die Eliten und deren Nachwuchs beschränkte, dass in den Arbeitervierteln wesentlich mehr Realismus und Nüchternheit herrschten.

Und trotzdem kein Generalstreik. Was war es dann? Der erfahrene Gewerkschafter fragt in solchen Fällen immer, ob überhaupt Streikbereitschaft besteht oder bestand? Möglicherweise nicht, denn auch über spontane Streiks in dieser existenziellen Frage gegen den vermeintlichen Verrat der Parteiführung ist wenig bekannt geworden.

Man könnte sich nun fragen, ob nicht nur die Parteiführung, sondern die Arbeiterbewegung insgesamt im Herbst 1914 in einer selbst aufgestellte Falle getappt war. Die Bedeutung der Julikrise 1914, ihre Feinheiten und vor allem ihre Folgen, waren mit Sicherheit für viele damals überhaupt gar nicht absehbar. Nicht einmal das Attentat von Sarajevo hatte für die Zeitgenossen eine solche aufrüttelnde Wirkung, wie wir es uns aus heutiger Sicht möglicherweise vorstellen. Die eigentliche Zäsur für viele war vermutlich etwas ganz anderes: die Generalmobilmachung Russlands. Hier war ein ganz sensibler Nerv nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Arbeiterbewegung getroffen worden. Wer galt denn über lange, lange Jahre, insbesondere seit der Revolution von 1905, als der Hort der Reaktion in Europa? Der russische Zarismus! Nun aber, wo es nicht mehr abstrakt um die da oben und die da unten ging, jetzt, wo eine konkrete politische Situation entstanden war, musste man der eigenen Partei plötzlich erklären, dass eine vernünftige Idee war, diesen Zaren und seine Militärmaschine gewähren zu lassen und darüber hinaus noch das eigene Land, in dem man sozial und auch politisch einiges erreicht hatte, politisch zu lähmen. Das gehörte doch mit hinein in die Abwägung - bei den sozialdemokratischen Führern wie in den Ortsvereinen und Vereinslokalen. War also die - isoliert wahrgenommene - Bedrohung von außen jetzt nicht vielleicht doch der Anlass, zur Verteidigung des eigenen ein Bündnis mit dem Kaiser gegen den Zaren einzugehen? Zumal doch kaum jemand glaubte, dass der schon länger erahnte “Große Krieg” schon begonnen hatte und dass er Ausmaße annehmen würde, wie sie der Erste Weltkrieg dann tatsächlich annahm ...

Wie auch immer: das eindimensionale, aus einer in große Klassen gespaltenen Gesellschaft erwachsene Kalkül hatte sich als nicht belastbar erwiesen. Es war eben nicht so einfach: die da oben, wir da unten, und wenn die da oben sich in die Haare kriegen, dann ist das genau der richtige Zeitpunkt für uns, sie allesamt einfach davon zu jagen. Plötzlich, in der Realität, erwies sich der Konflikt der da oben auch als ein Konflikt, in dem die da unten viel zu verlieren hatten. Und das wiederum hatte das Potenzial, alle politischen und ideologischen Gewissheiten aus der Zeit davor außer Kraft zu setzen. War das ein Teil jener schwierigen, aber nachhaltigen Rationalität, nach der oben gefragt wurde?

Und was bedeutet das für linke Friedenspolitik heute? Eben nicht nur die Treue zu den eigenen Beschlüssen, zu vordergründig klaren, angesichts komplexer Realitäten jedoch zu eindimensionalen Strategien. Strategien entwickeln - das heißt eben auch, Optionen zu entwickeln und Abwägungen vorzunehmen. Wer es sich dabei im Vorfeld von Entscheidungen zu einfach macht, läuft eben auch Gefahr, bei der Entscheidung, wenn es ernst wird, in die Irre zu laufen. Wer das vermeiden will, muss eben auch weitere Lehren von 1914 wach halten: Nicht mit groben Feindbildern hantieren, die “den Feind” auf einen Feind reduzieren und diesen dann auch noch veräußerlichen. Die Lehre, dass der Kampf für sozialen Fortschritt in einem Land auch immer verbunden werden muss mit dem Kampf für eine sozial gerechte, auf friedliche Regelungsmechanismen, auf Konfliktprävention ausgerichtete internationale Ordnung.

https://www.die-linke.de/III. Verdun

Verdun - das ist wohl bis heute das Symbol für den Ersten Weltkrieg als “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts. In meiner Generation erinnern wir uns noch an Großväter, die dort gekämpft hatten, die ihre Brüder dort verloren, die zu den verzweifelten “Helden vom Douaumont” gehört hatten.

Verdun war, soweit ich es überblicken kann, das erste Großereignis der industriemäßigen Vernichtung von Menschen. Mit bis dahin unvorstellbarem Zynismus wurde das “Aus-” oder “Weißbluten” (Falkenhayn) ganzer Armeen kalkuliert, wurde das massenhafte Töten mit Schusswaffen und Gas zur Alltäglichkeit.

Militärhistorisch gesehen war Verdun, so der Historiker Michael Salewski, ein

“erster, folgenschwerer Schritt hin zur Wirklichkeit des Vernichtungskrieges, wie er ab Juni 1941 in der Sowjetunion geführt werden sollte”. [9]

Aber es geht hier m. E. nicht nur um militärhistorische Aspekte. Militärhistorisch kann und muss man über vieles streiten - vor allem wohl, ob es Falkenhayns Weihnachtsdenkschrift von 1915 tatsächlich gegeben hat oder nicht oder welchen Inhalts es sie gegeben hat und was aus all dem über die wirklichen militärstrategischen Überlegungen zum deutschen “Unternehmen Gericht” vor Verdun folgt.

Am Ende geht es dabei wohl vor allem um die - auch politisch nicht ganz unerhebliche - Frage, ob das massenhafte Töten und Verstümmeln vor Verdun von Anfang an das alleinige strategische Kalkül oder ob das Resultat eines gescheiterten umfassenderen Plans war. Am Ende steht aber in beiden Fällen, dass der Hauptverantwortliche für die Entwicklung, Erich von Falkenhayn als Chef der zweiten Obersten Heeresleitung, all dem - und das nicht nur in seinen 1919 erschienenen Memoiren - einen Anschein strategischer Legitimität verleihen konnte.

Auch hier ist zu fragen, wo und wann der Abwägungsprozess außer Kontrolle geriet, welche Faktoren unter welchen Umständen letztlich wiederum zum Versagen in Verantwortung führten.

Falkenhayn war unzweifelhaft ein Produkt des preußischen Militarismus und geprägt vom unseligen Geist der wilhelminischen Ära; er hat das industrielle Töten in die Praxis überführt - eine bloße Inkarnation des Bösen und ein eifernder Vorläufer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie war er nicht. Das zeigt sein Verhalten im Judenpogromkonflikt im Osmanischen Reich 1917. Der Historiker Volker Afflerbach schreibt dazu:

„Ein unmenschlicher Exzess gegen die Juden in Palästina wurde allein durch Falkenhayns Verhalten verhindert, was vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts einen besonderen – und Falkenhayn auszeichnenden – Stellenwert erhält.”/typo3/[10]

Und dennoch: Im Zweifel, in der wirklichen Entscheidungssituation, als es um das Große und Ganze, um das im eigenen Sinner “Eigentliche” ging, brach ein Menschenbild durch, wie es in dem kommenden “Jahrhundert der Extreme” (Hobsbawm) immer wieder zu blutiger Gewalt und massenhaftem, industriellem Töten geführt hat - ob als Exzess oder strukturell verankert in menschenfeindlichen Regimen. Mit einem bloßen Verweis auf die verbreitete Auffassung, der Zweck heilige die Mittel, ist es hier nicht getan. Der schließlich von beiden Seiten vor Verdun bewusst praktiziertet Verschleiß von “Menschenmaterial” setzte voraus, dem menschlichen Leben im Zweifel keinen Eigenwert beizumessen und sich zugleich von Amts oder des sozialen Status wegen befugt und getrieben zu sehen, nicht nur generell über Leben und Tod zu entscheiden, sondern die einem anvertrauten Menschenleben auch zum Selbstzweck und ohne erkennbaren “Vorteil” zu zerstören, sowohl als “Kanonenfutter” als auch als lebende Kanonenkugel einzusetzen. Der Mensch wird dabei vom einstigen lebendigen Gefolgsmann zum bloßen Instrument herabgewürdigt, auf dessen Leben es gar nicht mehr ankommt. Und er wird beim Blick auf die andere Seite vom gegnerischen Kombattanten oder fremden Nachbarn zum bloßen unbeseelten Hindernis, das einfach aus der Welt geräumt werden muss.

Dieses Menschenbild war mit Verdun in den Machteliten des 20. Jahrhunderts etabliert - nicht allein, aber doch als eine immer wieder ernsthaft erwägenswerte Option. Der Zivilisationsbruch, den die Menschheit in diesem 20. Jahrhundert erlitten hat, wird damit aber auch als Prozess deutlich. Als Zivilisationsbruch, der mit dem Holocaust einen singulären Höhepunkt hatte, der aber selbst nicht als singulär eingestuft werden darf: Sein Menschenbild ist zwar gebrochen, aber nicht aus der Welt. Seine Blutspur zog sich über Jahrzehnte “nur” an der scheinbaren Peripherie unserer Welt entlang  - von den “Roten Khmer” bis zum Blutrausch der Tutsi und Huti. Aber vergessen wir nicht den Krieg der USA gegen Vietnam und bedenken wir bitte auch - gerade als Linke - dass das Menschenbild des Hoch-Stalinismus sehr wohl den Menschen auf die Kategorien Instrument oder Hindernis reduzieren und daraus in großem Stil blutige Konsequenzen ziehen konnte.

Und schauen wir vor allem mit allem Ernst auf die rechtspopulistische Welle unserer unmittelbaren Gegenwart. Nicht nur in der Rhetorik führender AfD-Politiker, sondern eben auch in der Gewalttätigkeit der ausufernden rechten Szene und ihrer Grauzonen zur gesellschaftlichen Mitte gegenüber Flüchtlingsheimen, Migrant_innen, aber auch demokratischen Politikerinnen und Politikern und gegenüber Journalistinnen und Journalisten  - es scheint genau dieses Menschenbild wieder auf, das wir mit dem Ende des “Kurzen 20. Jahrhunderts” (Hobsbawm) erledigt geglaubt hatten.

Verdun lehrt uns politisch vieles: von der Dringlichkeit des Kampfes gegen Massenvernichtungsmittel bis hin zur Notwendigkeit einer internationalen  politischen Ordnung des Dialogs, der Diplomatie und des gewaltfreien Interessenausgleichs. Für die Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Rechtspopulismus, für eine Offensive des Humanismus und der Menschenwürde wird eine klare Auseinandersetzung mit dem seit dem Frühjahr 1916 in das öffentliche Bewusstsein gehämmerten Menschenbild der “Ermattungsstrategie” und des “Weißblutens”  von zentraler Bedeutung sein.

https://www.die-linke.de/IV. Kriegsausgang

Zum Versagen in Verantwortung gehören Unfähigkeit oder Unwille, die eigene Niederlage zu erkennen und einzugestehen. Umgekehrt aber führt auch die Scheu dazu, den Zusammenbruch des übermächtig erscheinenden Gegners rechtzeitig zu erkennen und sich politisch auf die Lösung jener lebenspraktischen Fragen vorzubereiten, an denen dieser gerade zu scheitern beginnt.

Ich frage auch hier wieder nach den Schwierigkeiten der Abwägungen und nach den eingetretenen Fehlschlüssen.

Gerade für die Linke in Deutschland ist es ja weniger die Frage der Kriegskredite, als die blutig vollzogene Spaltung der Arbeiterbewegung mit ihren Morden an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, mit dem Bündnis der rechten sozialdemokratischen Führer mit den mörderischen Freikorps.

Was also war dort aus dem Ruder gelaufen? Zunächst: Die in Deutschland im Jahr der Kriegsniederlage bis in die Sozialdemokratie hinein verbreitete Revolutions- und Bürgerkriegsfurcht war aus heutiger Sicht übertrieben. Sie war eher aus dem Blick auf das europäische Umland, vor allem auf die russische Oktoberrevolution von 1917, und viel weniger aus dem Blick auf die realen politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland begründet.

Als der Erste Weltkrieg zu Ende ging und Deutschland von der November-Revolution erfasst wurde, hatten alle politischen Lager bereits ihre Beobachtungen und Erfahrungen mit der Entwicklung der russischen Revolution gemacht. Daraus erwuchsen vielfältige - für bestimmte Klassen und Schichten durchaus berechtigte, gewollte - Ängste und Sorgen: ökonomische, aber auch politische, kulturelle, sozial-psychologische. Man lese nur die Eindrücke und Analysen des wohl unverdächtigen Zeitzeugen Maxim Gorki aus jener Zeit, um sie nachzuvollziehen. Und man bedenke, dass das sich abzeichnende russische Gesellschaftsmodell bis weit in die Linke hinein zumindest zu Distanz führte und auf ernsthafte Kritik - wie bei Rosa Luxemburg - stieß.

Was geschehen ist, lässt sich nur aus diesem Kontext heraus verstehen und bewerten. So gesehen ist es auch weniger die Frage, was ein so fragwürdiger politischer Charakter wie Gustav Noske 1918 bis 1920 trieb und welch blutige Gewalt er gegen die Arbeiterbewegung einsetzte. In dem Koordinatensystem, das wir hier aufmachen, gilt es weniger zu belegen, dass Noske

“überzeugter deutschnationaler Sozialdemokrat preußischer Prägung mit einem Gespür für Macht und einer seltsam unbekümmerten Einstellung zum Militär" (so sein Biograf Wette)/typo3/[11]

war, sondern wie und warum er zu einer so exponierten Stellung in der deutschen Sozialdemokratie wie in der deutschen Politik insgesamt kommen konnte.

Ich wage eine These: Noske, der schon spätestens seit seinem Einzug in den Reichstag 1907 ein politischer Grenzgänger war, konnte nur deshalb während der Revolution und unmittelbar danach so eine zentrale und ungehemmte Figur werden, weil es in der Partei und in der Bewegung vor dem Krieg und vor der Revolution mehr um den Gestus, um den Anschein von Politik ging als um reale Optionen und Entscheidungen. Eduard Bernstein vor allem hat gegen diese Selbstbezogenheit und Selbstgewissheit der Sozialdemokratie Anfang des Jahrhunderts vehement angeschrieben und für eine tatsächliche politische Ausrichtung geworben. Schwächephasen des wilheminischen Systems sollten nicht für Häme und Triumphalismus genutzt werden, die Partei sollte nicht elitär in der Gewissheit verharren, dass der unausweichbare Umbruch wieder etwas näher herangerückt scheint, sondern für reale Fortschritte - wie z.B. die konsequente Parlamentarisierung des politischen System - eintreten und dafür möglich Bündnisse suchen und schließen.

Doch weder auf der linken wie auf der rechten Seite seiner Partei und auch nicht an der Basis ist dies wohl wirklich verstanden worden. So kam es denn, wie es kommen musste:

“Keiner hielt sich im Krieg an den von Kaiser Wilhelm II. proklamierten "Burgfrieden" ("Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche") wie die Sozialdemokraten - ohne Gegenleistung zu fordern, etwa Demokratisierung im Reich oder auch nur Regierungsbeteiligung. Sie nahmen, 1917, sogar die Spaltung der Partei in Mehrheitssozialdemokraten (MSPD), Unabhängige Sozialdemokraten (USPD) und Spartakisten (später Kommunisten) in Kauf. Keiner wie die Mehrheitssozialdemokraten bewahrte nach dem Kriege die kaiserlichen Machteliten vor revolutionärem Machtverlust.”/typo3/[12]

Aus der missachteten politischen Notwendigkeit, Bündnisse zu schmieden, wurde, als es ernst wurde, bloße Bündelei - mit verheerenden Folgen für den Augenblick und verheerenden Nachwirkungen über Jahrzehnte.

Demgegenüber und angesichts dessen hatte General Groener, als er vor der bereits deutlich absehbaren Niederlage im Sommer 1918 an der Seite Hindenburgs in die dann vierte Oberste Heeresleitung eintrat, einen klaren Plan:

1.      "Auffangen und Unschädlichmachen der revolutionären Strömung", insbesondere des “Bolschewismus”

2.      "Wir hofften durch unsere Tätigkeit einen Teil der Macht im neuen Staat an Heer und Offizierskorps zu bringen." Gelinge das, "so war der Revolution zum Trotz das beste und stärkste Element des alten Preußentums in das neue Deutschland hinübergerettet". [13]/typo3/

Während Groener aus dem klaren sozialen und politischen Interesse der im preußischen Offizierkorps repräsentierten Kräfte von Adel und Bürgertum heraus agierte, hatte sich Friedrich Ebert, der führende Sozialdemokrat, bereits auf eine eher staatsmännische Ebene begeben und prägte von da aus den Kurs seiner Partei:

„Wollen wir jetzt keine Verständigung mit den bürgerlichen Parteien und der Regierung, dann müssen wir die Dinge laufen lassen, dann greifen wir zur revolutionären Taktik, stellen uns auf die eigenen Füße und überlassen das Schicksal der Partei der Revolution. Wer die Dinge in Russland erlebt hat, der kann im Interesse des Proletariats nicht wünschen, dass eine solche Entwicklung bei uns eintritt. Wir müssen uns im Gegenteil in die Bresche werfen, wir müssen sehen, ob wir genug Einfluss bekommen, unsere Forderung durchzusetzen und, wenn es möglich ist, sie mit der Rettung des Landes zu verbinden, dann ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das zu tun.” [14]/typo3/

Man kann dies als eine außerordentlich weiche, für weitreichende Kompromisse mit den Kräften des alten Regimes und den bürgerlichen Parteien offene Position kritisieren. Man kann dies sogar mit einigem Recht tun und darauf verweisen, dass die SPD schon seit längerem die stärkste politische Partei im Reich war, dass sie die zahlenmäßig größte Klasse repräsentierte und ihre politischen Konkurrenten im eigenen Lager, die USPD und die sich auf den Weg machende Spartakusgruppe, deutlich schwächer waren und bei Wahlen lediglich ein Fünftel bis ein Viertel der Stimmenzahl verzeichneten, die die SPD erreichte.

Andererseits, und das war wohl der Ansatz Friedrich Eberts, erwuchs aus dieser Stärke der SPD zunehmend eine Verantwortung der Partei für das Reich als Ganzes - und das in der Situation einer existenziellen Krise des Landes selbst, einer tiefen Spaltung im realen und potenziellen eigenen Anhang sowie einer fragilen staatlichen Neuordnung Europas im gesamten Osten und Süden um Deutschland herum. Die Krone war gefallen, die Oberste Heeresleitung schob den Schwarzen Peter von sich weg und die SPD war der letzte handlungsfähige politische Faktor von gesamtnationalem Gewicht - aber sie repräsentierte in ihrer traditionellen Gestalt bei weitem nicht alle relevanten politischen und sozialen Interessen jener Tage. Dies ist die eine Seite - auf der anderen Seite gaben ihre Grundsatzprogrammatik und ihre parlamentarischen Forderungen der letzten Jahre keine hinreichend praktikablen Antworten auf die drängenden Herausforderungen jener Tage:

-          die Gewährleistung der Versorgung mit den dringendsten Lebensmitteln und Bedarfsgütern

-          den Reallohnverlusten, die sich in steigenden Preisen manifestierten

-          dem möglichst geordneten Rückzug der Armee, der Übergabe der Verantwortung in den besetzten Gebieten und der Versorgung der zahlreichen Kriegsinvaliden

-          der Gestaltung der künftigen Staats- und Verfassungsordnung incl. Klärung der Perspektive des Räte-Systems und dem Umgang mit den alten Eliten und ihren Leuten in Verwaltung, Justiz, Hochschulen etc., auf deren Expertise man angewiesen war

-          die Eindämmung separatistischer Bestrebungen in verschiedenen Reichsteilen

-          der Bekämpfung der Grippe-Jahrhundertepidemie 1918/19 und ihrer Folgen

-          und schließlich der Friedensschluss mit den Siegermächten und die Neuordnung Europas und großer Teile der Welt.

War das die Situation, in der statt pragmatischen Tuns und Suchens der Mut zur Ausrufung der sozialistischen Revolution gefragt war? Selbst die gerade eigenständig in die politische Arena eingetretenen Kommunisten hat damals darauf eine nüchterne Sicht: Sie hielten

den Augenblick eines "revolutionären Umsturzes" nicht für gekommen. Eine auf das "Proletariat gestützte Regierung" hätte "nicht länger als 14 Tage zu leben" gehabt.[15]

Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind sich, bis die Revolution in Berlin mit dem Spartakus-Aufstand trotzdem noch einmal aufflammt, einig,

dass “"die Machteroberung nicht eine einmalige, sondern eine fortschreitende" sein soll. [16]

Liebknecht wird dann vom lokalen revolutionären Furor mitgerissen, Luxemburg ermahnt ihn, an der gemeinsamen Programmatik festzuhalten.

Freilich: Von Lenin ist überliefert, er habe sich gefreut wie ein kleines Kind, als die Sowjetmacht die Lebensdauer der Pariser Kommune übertroffen hatte - auch er war also anfangs auch nicht von der Gewissheit getragen, dass der Mut zur Revolution zu stabilen Verhältnissen führen würde - doch er hatte ihn trotzdem gewagt.

Berlin aber war nicht St. Petersburg, Deutschland nicht Russland. Deutschland tastete sich - weitgehend unvorbereitet auf einen Systemzusammenbruch und den Aufbau neuer Strukturen - suchend und irrend in die neue Zeit hinein - geführt und getragen vor allem von der Sozialdemokratie. Es war eine Zeit, die sowohl staatsmännisches Verhalten lehrte und brauchte, als auch Geschöpfe wie Noske hervorbrachte - und in der es letztlich an der Kraft fehlte, stabile Grundlagen für eine dauerhafte Demokratie zu legen.

Was das politisch für heute bedeutet, wird noch lange umkämpft und umstritten sein. Was man m. E. lernen kann und muss, ist die Notwendigkeit, die Dinge sowohl rückwirkend als auch hinsichtlich der eigenen aktuellen Lage mit Augenmaß und Entschlossenheit gleichermaßen zu betrachten. Und zu wissen, dass die historischen Momente die maßgeblichen sind, für die man keine Antworten vorfertigen kann.

https://www.die-linke.de/IV. Nachkriegsordnung

Das Jahr, in dem der Erste Weltkrieg zu Ende gehen sollte, hatte einen bemerkenswerten Auftakt - nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Parlament. Am 8. Januar 1918 entwickelte US-Präsident Woodrow Wilson vor beiden Häusern des Kongresses in 14 Punkten Vorstellungen für die Welt nach dem Ende des Krieges. Zunächst verstanden als die Darlegung der amerikanischen Kriegsziele, erwiesen sich diese 14 Punkte aber doch als ein Impuls von weitreichender Bedeutung. Und das in zweierlei Hinsicht: einerseits mit Blick auf die Entwicklung souveräner, unabhängiger Nationalstaaten anstelle von Imperien und auch Kolonialreichen, andererseits bezüglich einer neuen Art von Diplomatie und internationaler Zusammenarbeit.  Auch aus heutiger Sicht liest sich vieles an Wilsons Ideen gut, mittlerweile auch vertraut, allerdings haben sie den Realitätstest (unter blutigen Umständen) so nicht bestanden.

Wilson wird dafür oft eine beträchtliche Mitschuld angelastet - wegen einer Fehleinschätzung der bestehenden inneren und äußeren Kräfteverhältnisse, wegen seines mangelnden Verhandlungsgeschicks bei der Pariser Friedenskonferenz oder seinem Unvermögen, die USA in den von ihm selbst angeregten Völkerbund zu führen. Auch hier ist von einem Versagen in Verantwortung sprechen - doch bei weitem nicht nur bei einem Mann oder in einem Land.

Deutschland,  weithin noch gefangen im imperialen Traum vom “Siegfrieden“, lehnte den Wilson-Plan zunächst ab. Doch nachdem im August 1918 die deutsche Niederlage unabweisbar geworden war, erschien der Wilson-Plan als Anknüpfungspunkt für einen akzeptablen “Verhandlungsfrieden“. Da allerdings war die Zeit schon ein Stück weit über den ursprünglichen Wilson-Plan hinweggegangen - aus vielerlei Gründen, aber nicht zuletzt auch angesicht des brutalen, imperial grundierten Friedensvertrages von Brest-Litowsk, den Deutschland zuvor noch Russland aufgezwungen hatte.

Als es dann schließlich zum Friedensschluss kam, verfuhr man nicht wie beim Westfälischen Frieden, wo alle Kombattanten-Staaten am Tisch saßen, und auch nicht wie beim Wiener Kongress, wo auch die Besiegten Verhandlungspartner waren. Der Versailler Vertrag wurde oktroyiert und Deutschland, inzwischen auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie, zur Unterzeichnung gezwungen. Das sollte verhängnisvolle Folgen haben, was auch auf der Seite der Siegermächte so gesehen wurde. John Maynard Keynes, damals Teilnehmer der Pariser Friedenskonferenz, sprach von einem “Karthago-Frieden”, der weitere Kriege hervorbringen werde, und empörte sich:

“Die Politik der Versklavung Deutschlands für ein Menschenalter, der Erniedrigung von Millionen lebendiger Menschen und der Beraubung eines ganzen Volkes sollte abschreckend und verwerflich sein, selbst wenn sie möglich wäre, selbst wenn sie uns reicher machte, selbst wenn sie nicht den Verfall der ganzen europäischen Kultur zur Folge hätte.” [17]

Und der Literaturnobelpreisträger Anatole France warnte:

“Der fürchterlichste aller Kriege hatte einen Friedensvertrag zur Folge, der kein Vertrag des Friedens ist, sondern die Fortsetzung des Krieges. Europa wird durch ihn zugrunde gehen, wenn es nicht die Vernunft zu seinem Ratgeber wählt.” [18]

Und doch waren der Furor nicht zu stoppen, die Versuchung der Siegermächte nicht zu bremsen, sich der ökonomischen Lasten des Krieges und der moralischen Mitverantwortung dafür zu entziehen. Die junge deutsche Republik verlor darüber nicht nur ihren Ministerpräsidenten Scheidemann, sondern geriet in einen strukturellen internen Konflikt um die sog. “November-Verräter” und ”Erfüllungspolitiker”, der die Vernunft als Ratgeber in die Defensive drängte, fast alle Parteien zur zumindest verbalen Ablehnung von “Versaille” trieb und so mit zum Nährboden späteren Untergangs der ersten deutschen Demokratie wurde.

Das Ende des Ersten Weltkrieges ging aber nicht nur mit der Niederlage Deutschlands, sondern auch mit der Auflösung jahrhundertealter Großreiche einher. Den im zerfallenden Österreich-Ungarn lebenden Völkern hatte Wilson versprochen, ihnen

“sollte die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung zugestanden werden”[19]

Der Historiker Robert Gerwarth beschreibt diesen Ansatz als unter den obwaltenden Umständen eine

“revolutionäre Idee mit enormem Konfliktpotenzial”[20].

An anderer Stelle führt er dazu aus:

"’Das Versprechen des US-Präsidenten Woodrow Wilson, die Landkarte Europas im Einklang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker neu zu ordnen, war dem Geiste des liberalen Idealismus entsprungen. Doch die Logik des ethnischen Nationalismus, dass nur die homogene Nation eine gesunde Nation sei, musste angesichts der Vielfalt Mittel- und Osteuropas früher oder später in die Katastrophe führen.”[21]

Diese Gefahr allerdings war spätestens seit der Zeit der Balkankriege 192/13 mit der blutigen Vertreibung zigtausender Muslime unübersehbar. Die Bemühungen der amerikanischen Delegation, in den Pariser Vorortverträgen Klauseln und Vereinbarungen zum Minderheitenschutz unterzubringen, erwiesen sich dagegen einfach als zu schwach. Vertreibungen großen Stils, etwa der Griechen aus Kleinasien, wurden zum bitteren Merkmal der folgenden Jahre und Jahrzehnte. Polen etwa, das sich im anhaltenden Konflikt mit der deutschen Minderheit befand, kündigte die Vereinbarungen schließlich 1934 auf.

Auch den im sich auflösenden Osmanischen Reich lebenden Nationalitäten war versprochen worden, ihnen solle

“eine zuverlässige Sicherheit des Lebens und eine völlig ungestörte Gelegenheit zur selbstständigen Entwicklung gegeben werden”.[22]  

Angesichts dessen, was sich aber real vollzog, kann dies nur als Verhöhnung empfunden worden sein - und wird es das ja auch bis heute. Im ehemals osmanischen Machtbereich wurden kein starker arabischer, dafür aber fiktive Nationalstaaten geschaffen, deren Existenz im wesentlichen der Abgrenzung der britischen und französischen Einflusszonen diente. Frühere Verbündete wurden gedemütigt, dynastische Versprechen zunächst gebrochen und später nur an anderem Ort und in reduziertem Umfang umgesetzt.

Höhepunkt politischen Abenteurertums und damit politischen Versagens war jedoch das Vorgehen Großbritanniens in Sachen Nachkriegsordnung im Nahen Osten, in der Levante:

“Großbritannien versprach die Levante … gleich drei Parteien: 1915 den Arabern, 1917 dem jüdischen Volk, und im Jahr dazwischen teilten sie Briten und Franzosen im Sykes-Picot-Abkommen unter sich auf.”[23]

So wurde der Grundstein für Konflikte gelegt, die bis heute bestehen, die teils erneut eskalieren, teil erneut aufbrechen - blutig und gewaltsam, immer weniger auf die Region selbst beschränkt.

Nirgendwo sonst ist das Bedingungsgefüge wohl so komplex wie hier im Bereich der internationalen Politik - und damit dem Versagen in Verantwortung an den Kern zu kommen. Einige zentrale Thesen jedoch schälen sich heraus:

  1. Die Beilegung von Konflikten muss auf Augenhöhe erfolgen. Sie darf nicht von Rache getrieben sein. Politisch Verantwortliche sollen und müssen zur Verantwortung gezogen werden - es darf aber nicht ein ganzes Volk, es dürfen nicht die gesamten Eliten mit ihnen identifiziert werden. Ächtung darf nicht pauschalisiert werden.
  2. Nationenbildung erfordert mehr  als die Ausrufung von Nationalstaaten, die vorrangig auf ethnischer Abgrenzung beruhen. Die historischen und kulturellen Wurzeln der westlichen Nationalstaaten dürfen nicht als generell gegeben oder als per Dekret ersetzbar vorausgesetzt werden.
  3. Die Idee der “ethnischen Homogenität” greift dann um sich, wenn herkömmlicher staatlicher Zusammenhalt schwindet und neue Staatlichkeit nach Legitimation und Bindekraft sucht. Das lehrt die Zeit vor wie nach dem Ersten Weltkrieg - diese Lehre reicht aber bis in die jüngste Vergangenheit, etwa beim Zerfall Jugoslawiens in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Heute sind es zunehmender Druck auf eine vermeintliche “geistige Homogenität” in sich autoritär wandelnden Gesellschaften, nicht minder aber der in Europa und anderswo immer lauter werdende politische Antiislamismus, die vor diesem Hintergrund Anlass zu großer Sorge geben und nicht einfach hingenommen werden dürfen.
  4. Die westlichen Nationalstaaten, die Wilson als Vorbild vorschwebten, waren nicht als Zerfallsprodukte von Imperien entstanden bzw. hatten nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches eine jahrhundertelange eigene Vorgeschichte, in der sich auch das Miteinander der Ethnien geordnet hatte. Die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen neuen Nationalstaaten waren das ganze Gegenteil davon. Als Zerfallsprodukte von Imperien waren sie ökonomisch, aber auch sozial und kulturell aus einem lange bestehenden Verbund gerissen - zugleich gab es keine konsolidierte Basis für die ethnische Vielfalt, die auch diese Staaten im Inneren auszeichnete. Seit der Zeitenwende 1989/90 erleben wir im Ansatz ähnliche Probleme in den Nachfolgestaaten der UdSSR. Deren ehemalige Partner im RGW konsolidierten sich hingegen klar auf dem Weg zur Mitgliedschaft in der EU. Wie sich wiederum der Brexit auswirken wird, ist noch offen - vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen jedoch gibt es keinen Anlass, im Ausscheiden aus dem Verbund der EU und in einer Rückbesinnung auf den alten Nationalstaat einen guten Weg für die Zukunft zu sehen.
  5. Die konfliktgeladene, oftmals bedrohliche Lage, in der sich der Westen in der Welt immer öfter und länger befindet, insbesondere das Ausgreifen des militanten Islamismus, finden ihren Nährboden bis heute in groben Fehlentscheidungen und in grober Missachtung gegenüber vermeintlichen “Hilfsvölkern” an der Peripherie bei der Gestaltung der Weltordnung nach dem Ersten Weltkrieg. Auf alte Fremdbestimmung war neue Fremdbestimmung gesetzt worden, bei einem entschlossenen Sowohl-als-auch insbesondere in der Palästina-Frage waren die Interessen der dort lebenden Menschen im Zweifel zweitrangig - bis heute.

 

V. Ausklang

Wie aktuell ist die Geschichte? Wenden wir den Blick nicht doch zu lange und zu weit zurück  - angesichts der Herausforderungen von heute?

Nein. Dafür gibt es zwei Gründe:

  1. Das kollektive Gedächtnis entwickelt sich in sehr langen Bögen - im Positiven wie im Negativen. Die Dauer eines Menschenlebens ist da wenig. So etwas wie die deutsch-französische Aussöhnung ist eher ein Wunder und hatte sehr spezifische Voraussetzungen - die aktuellen Schwierigkeiten im deutsch-polnischen Verhältnis oder polnisch-russischen Verhältnis und die Renaissance von Ängste, Vorbehalten etc. sind sicher ein Rückfall hinter schon einmal bessere Zeiten, aber sie sind nur verständlich im Wissen um diese langen Bögen, die das kollektive Gedächtnis spannt - und um seine Inhalte und um die Bedingungen, die sie formten.
  2. Einmal gezogene Lehren scheinen mit diesen langen Bögen nicht synchron zu laufen, ihnen geht der Atem schneller aus. Mit der Reproduktion ähnlicher Probleme wie vor rund hundert  Jahren geht eben nicht automatisch die Reproduktion der dabei gewonnenen Schlussfolgerungen einher. Man muss dies wissen, um die Chance zu erkennen und zu nutzen, die wir heute haben: rechtzeitig das Richtige zu tun oder zumindest das Falsche zu vermeiden.

 

Anmerkungen:

[1]  Angelow, Jürgen: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900 bis 1914. be.bra Verlag, Berlin 2010, S. 31

[2] Angelow, Jürgen: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900 bis 1914. be.bra Verlag, Berlin 2010, S. 57

[3]  Angelow, Jürgen: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900 bis 1914. be.bra Verlag, Berlin 2010, S. 31

[4]  Angelow, Jürgen: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900 bis 1914. be.bra Verlag, Berlin 2010, S.40

[5]  Angelow, Jürgen: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900 bis 1914. be.bra Verlag, Berlin 2010, S. 164

[6]  Angelow, Jürgen: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900 bis 1914. be.bra Verlag, Berlin 2010, S. 167

[7]  Angelow, Jürgen: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900 bis 1914. be.bra Verlag, Berlin 2010, S. 164f.

[8]  https://www.cicero.de/aussenpolitik/muenchener-sicherheitskonferenz-nervoese-welt.

[9] Salewski, Michael:  Der Erste Weltkrieg, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003,  S. 194

[10] Holger Afflerbach: Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich. Oldenbourg Verlag, München 1994, S. 485

[11]  Wette, Wolfram: Gustav Noske. Eine politische Biografie. Düsseldorf: Droste 1987, S. 14

[12] „Einer muß der Bluthund werden“ - DER SPIEGEL 13/1988

[13]  zit. nach: „Einer muß der Bluthund werden“ - DER SPIEGEL 13/1988

[14]  Zitiert nach Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik. S. 100. Auch bei Heinrich August Winkler: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. Beck, München 1993, S. 22

[15]  zit. nach: „Einer muß der Bluthund werden“ - DER SPIEGEL 13/1988

[16]  zit. nach: „Einer muß der Bluthund werden“ - DER SPIEGEL 13/1988

[17]  Keynes, John Maynard: Krieg und Frieden, die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles, Berlin: Berenberg Verlag 2006, S. 105

[18]  zit. nach: Gerwarth, Robert: Das Vermächtnis des Ersten Weltkrieges und das 20. Jahrhundert. In: Deutschlandfunk/Essay und Diskurs - Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts? DLF 20.04.2014

[19]  zit nach: Wikipedia: 14-Punkte-Programm - https://de.wikipedia.org/wiki/14-Punkte-Programm

[20]  Gerwarth, Robert:  Die größte aller Revolutionen. Deutschlandfunk/Essay und Diskurs - Reihe: Politische Gewalt im 20. Jahrhundert, Teil 2. DLF 15.08.2010

[21]  Gerwarth, Robert: Das Vermächtnis des Ersten Weltkrieges und das 20. Jahrhundert. In: Deutschlandfunk/Essay und Diskurs - Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts? DLF 20.04.2014

[22] zit nach: Wikipedia: 14-Punkte-Programm - https://de.wikipedia.org/wiki/14-Punkte-Programm

[23]  Hermann, Rainer: Hundert Jahre Unfrieden. FAZ, 1. 11. 2017