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Konferenz "Epochenbruch 1914-1923"

Bruchzone 1914-1923

Dr. Stefan Bollinger

"Schon am frühen Morgen war ganz Berlin auf den Beinen. Trotz der schwierigen Verkehrslage waren Zehntausende von Menschen nach Berlin geströmt, um Zeuge zu sein bei der Grundsteinlegung der neuen Gesellschaft. Der ganze lange Weg vom Flugplatz bis zum Reichstagsgebäude, das nun wirklich dem deutschen Volke und dem internationalen Proletariat gehört, war dicht von Menschen umsäumt. Acht Reihen tief standen auf einer Straßenseite die Mitglieder der bewaffneten roten Macht, die Angehörigen der Roten Armee und der Roten Arbeiterwehr Berlins. Auf der anderen Seite die Mitglieder des Roten Frauenbundes zur Verteidigung der Revolution und -kilometerweit, ebenfalls zu Hunderttausenden — unsere Jugend, die kommende Generation, der die Erfolge unseres Kampfes zugute kommen sollen. Spannung, Begeisterung, Kampfbereitschaft auf allen Gesichtern. Heut kommt kein Potentat, kein degenerierter Spross eines Fürstenhauses. Heut kommen die Männer von morgen, die Führer der Revolution. Ungeheurer Jubel bricht aus, als die Führer der deutschen Revolution vorbeifahren, Karl Liebknecht, Ledebour, Rosa Luxemburg, Levine ... Und plötzlich wird der Sturm zum Orkan, reißt alles hoch in einem einzigen ungeheuren Wirbel. Hunderttausend Willen werden zusammengeschweißt zu einem einzigen Willen, hunderttausend Kehlen verschmelzen, vereinigen sich zu einem einzigen Ruf Lenin!!! Lenin!!! Lenin!!!"[1]

Was hier der vergessene und von den Nazis ermordete Sozialdemokrat Walter Müller ein gutes Jahrzehnt nach den Ereignissen von 1918/19 in einer kontrafaktischen Utopie so begeistert beschrieb würde unsere heutigen Diskussionen überflüssig machen. Russen, Deutsche, die internationale Arbeiterklasse letztlich geeint, siegreich, der Pioniergeist des Ostens mit der soliden technologischen und kulturellen Basis des Westens verbunden ...

I.

Wir haben lernen müssen, dass es mit den Utopien, den Hoffnungen, die immer bleiben, aber nur schwer einzulösen sind so eine Sache ist. Darüber sollte auch die heutige Aufgeregtheit, das Interesse für jene Ereignisse, die vor einhundert Jahren Europa und die Welt umkrempelten, nicht täuschen. Es mag viele Gründe geben, die ein knappes Generationsalter nach dem Untergang des Realsozialismus, der sowjetischen Supermacht, der Wiedererrichtung einer kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung die Blicke auf diese vergangene Zeit richten mit der Frage, was sie uns für das Heute vermitteln könnte.

Um es vorwegzunehmen: Die Vergewisserung der Geschichte kann helfen, Traditionen zu entwickeln, kann helfen Vorbilder zu finden, sie sollte warnen vor Entscheidungen und Entwicklungen, die die Menschheit, aber auch ihre Kritiker und Weltverbesserern in die Irre, ins Verhängnis führen könnten.

Das gilt erst recht für eine Bewegung, die ihre historische und aktuelle Legitimität nicht aus den angehäuften Reichtümern in der Hand einiger weniger schöpft, sondern aus dem massenhaften Kampf für eine sozial gerechte, demokratisch verfasste Gesellschaft, die sich aller Ausbeutung, Unterdrückung und Benachteiligung entledigen will.

Wir sollten auch aus dieser Perspektive wissen – es ist nicht leicht, wirklich aus der Geschichte zu lernen. Denn nicht Historiker machen heute Politik, sondern diejenigen, die unzufrieden und unduldsam mit Krieg, Ungerechtigkeit und Bevormundung sind.

Gerade deswegen: Es mag die Einsicht einer nachwachsenden Generation und der aus ihrer Lethargie und Passivität erwachenden Minderheit der Zeitgenossen sein, die sich nicht mit einem "Ende der Geschichte" und einem TINA-Prinzip (d.h. dem alternativlosen There is not Alternative) abfinden wollen, die 70 Jahre Realsozialismus von Anfang bis Ende, mit ihren Irrläufen und Verbrechen, ihren Hoffnungen und realen sozialen Errungenschaften nicht auf den "Müllhaufen der Geschichte" verrotten lassen wollen.

Vielleicht ist es aber viel profaner, wenn auch existentieller: Seit gut einem Jahrzehnt steckt der Weltkapitalismus in einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise, die für viele Kenner keineswegs ausgestanden ist und erneut eruptiv demonstrieren kann, dass diese so überlegene und siegreiche neoliberale Ordnung den Keim der Zersetzung in sich trägt und "Krisentheoretikern" wie dem alten Marx zu neuen Würden verhilft.

II.

Der selbsternannte Empire-Weltgendarm USA hat die unilaterale Welt verspielt, weil er nicht so kann wie er gerne möchte. 100 Jahre nach 1914 ist die Welt wieder multipolar geworden, von Krisen und Kriegen gezeichnet und der unbedarfte Beobachter sieht nicht die Chancen dieser neuen Konstellationen, sondern allein ihre Risiken - die "Ur"- würde nun zur "End"-Katastrophe. Manche ihrer Akteure kommen ihm bekannt vor in Berlin, London oder Washington D.C. Bei anderen reibt er sich die Augen, wenn ein durch ein Übermaß von Revolutionen und Kriegen gebeuteltes und schon vergessen geglaubtes Russland sich als Welt- und Ordnung- und Konkurrenzmacht ebenso wie China zurückmeldet.

Es scheint die Erinnerung auf, dass dieser Große Krieg vor einhundert Jahren in Chaos, Zerstörung, Staatsgründungen, sozialen Umwälzungen endete – deren Folgen bis heute reichen und nicht ausgestanden sind.

Wenn Walter Müller und viele Linke recht behalten hätten, dann wäre die lange Zeit beschworene "Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus", wenn vielleicht noch nicht völlig beendet, so doch gut im Laufen heute. Da wir aber wissen, dass dies mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der Sowjetunion vor drei Jahrzehnten erstmal beendet ist bleiben uns Spurensuche und Spurensicherung, allerdings auch die Pflicht, selbstkritisch als Linke diese Geschichte zu besichtigen, zu schauen, ob es Erfahrungen gibt, die heute interessant und wichtig sind.

Nun sind linke Historiker und Sozialwissenschaftler, auch manche linke Parteien diesbezüglich nicht faul gewesen. Sie haben Stein um Stein umgedreht, mehr noch, jede Seite vergilbter Papiere durchwühlt, die "weißen Flecke" einer falschen parteiischen Geschichtsschreibung getilgt und "Unpersonen" wieder Namen, Gesicht und Ehre gegeben.[2] Wir wissen heute genauer, wie dieser Realsozialismus funktionierte, wir kennen die Grenzen und Gefahren eines System, das mangels besserer Möglichkeiten stellvertretend für die zu befreiende Klasse die Macht ausübte, die die innergesellschaftliche, bald auch innerparteiliche Demokratie zugunsten einer allmächtigen Parteibürokratie und ihrer mehr oder minder befähigten Führer beseitigte und die eigene kritische und dialektische Herangehensweise an das eigene System gelinde gesagt "vergaß". 

III.

Schauen wir darum zurück, wie es begann, welche Irrungen und Wirrungen, welche Hoffnungen und realen Erfolge zu sehen waren. Da ist zuerst einmal die Einsicht, dass dieser Bruch der Epochen, dieses Entstehen einer Bruchzone[3], wie heute Globalgeschichtler diese konfliktreiche Gemengelage bezeichnen, nicht das Werk der Linken war, die eigentlich Sozialismus wollten.

Die Zäsur war der Beginn eines Weltkrieges, in den niemand "hineinschlitterte" oder hinein "schlafwandelte", wie uns seit einigen Jahren Historiker wie Christopher Clark[4] weismachen wollen. Es war schlicht ein imperialistischer Krieg, der von allen beteiligten Großmächten gewollt wurde, weil sie klare Ziele hatten: das Erzbecken von Briey, Elsass-Lothringen und das Rheintal, die Dardanellen ... Natürlich träumten sie von einem anderen Krieg als den, den sie schließlich bekamen, kürzer, siegreicher – aber mit der je eigenen neuen Vormachtrolle in der Welt. Das wird heute gerne vergessen gemacht von jenen, die wieder an Rüstung und Krieg verdienen wollen, die wie immer mit freundlichem Gerede von Menschenrechten und Freiheiten ihre Vormachtrolle in der Welt zu erkämpfen suchen.

Dass hier einige Mächte besonders aktiv und kriegstreibend waren wie das Deutsche Reich gehört zu den notwendigen Erkenntnissen dieser Geschichte, die gegen jeden Revisionismus zu verteidigen sind – ohne aber den allseits imperialistischen Charakters des aus den Augen zu verlieren. Darum bleibt es eine der Verantwortungen der Linken, immer wieder das Geheimnis aus dem Kriege entstehen zu lüften und die Schuldigen zu benennen.

Diese Grundkonstellation kannten die Linken der II. Internationale am Vorabend des Weltbrandes sehr wohl. Ja, sie versprachen sich und der Welt, alles zu unternehmen, diesen Krieg zu verhindern und zu bekämpfen. "Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet ... alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern."[5] Nur, als es ernst wurde, war diese Kriegsgegnerschaft vergessen und der Internationalismus auf eine ferne Zukunft vertagt, denn das Vaterland musste verteidigt werden. Es waren nicht die großen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien, die nach ihrer verhängnisvollen Wendung zu "Vaterlandsverteidigern" den Kriegs zu beendigen suchten.

Es waren kleine, oft radikale Minderheiten der Arbeiterbewegung, die mit der Zimmerwalder Bewegung, dem Spartakusbund, der Bolschewiki sich besannen, dass allein Widerstand ihre Pflicht und die Chance auf Frieden war. Ihre radikalsten Kräfte begriffen, so Liebknecht: "Der Hauptfeind jedes Volkes steht in seinem eigenen Land! Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt's für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht."[6] Lenin formuliert noch konsequenter: "Umwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg, und jeder konsequente Klassenkampf während des Krieges, jede ernsthaft durchgeführte Taktik von 'Massenaktionen' muss unvermeidlich dazu führen."[7]

Heute neigen manche, wie Wladimir Putin dazu, Lenin und die Bolschewiki für die eigene russische Niederlage verantwortlich zu machen, träumen deutsche Historiker wie Herfried Münkler[8] davon, dass klügere Kriegsführung und stabileres Hinterland noch den Sieg für die eigenen Waffen gebracht hätten und selbst ausgewiesene Weltkriegsforscher wie Gerd Krumeich[9] wärmen die Mär von der Dolchstoßlegende auf.

Zu den Wahrheiten dieses Bruchs mit dem Weltkrieg gehört aber eben auch, dass nach drei, vier Jahren Krieg die Armeen, Völker, Kriegswirtschaften müde wurden, dass Hunger, Ausnahmegesetze, das tägliche Sterben an der Front und das Elend im Hinterland nicht nur Hurrapatriotismus, sondern auch elementare Durchhaltekraft bröckeln ließen.

In Deutschland revoltierten 1916 hungernde Frauen, kam es zu Sympathien zu den wenigen offenen Kriegsgegnern wie Karl Liebknecht. In Russland sorgten demonstrierende Frauen an ihrem internationalen Kampftag 1917, im Februar alter Rechnung, für den Beginn einer zunächst spontanen Revolution, die auf bessere Versorgung, auf Frieden gerichtet war für einen brutalen Wandel der russischen Gesellschaft. Schnell zeigte sich, dass die bürgerlichen, sozialrevolutionären, später auch menschewistischen Politiker der Provisorischen Regierung nicht in der Lage waren und nicht willens, die drängenden Fragen zu lösen. Das war die Grundlage für den raschen Masseneinfluss der Bolschewiki Denn die konnte sich Frieden, Brot, Boden und nationale Freiheiten auf die Fahne schreiben und wichtige Schritte in diese Richtung mit ihrer erfolgreichen Revolution vollziehen.

Das Jahr 1917 steht insofern für die zweite große Wendung in diesem Jahrzehnt des Bruchs. Zum einen traten die USA in den Weltkrieg ein und sollten – bei allem Schwanken in den nächsten beiden Jahrzehnten – die bestimmende Großmacht werden, die zwar Demokratie und Selbstbestimmung versprach, aber vor allem ihre imperialistische Dominanz und einen Antikommunismus brachte.

Zum anderen markieren die beiden russischen Revolutionen, vom Februar und vom Oktober, nicht nur den geopolitischen Bruch im kapitalistischen Weltsystem, sondern auch sowohl den Ausbruch aus dem imperialistischen Krieg wie den Anspruch auf eine künftige, sozialistische Gesellschaft. Beide Revolutionen, schon der Februar, erst recht der Oktober, krempelten die politischen und vor allem mit dem Sieg der Bolschewiki die sozialen Verhältnisse in Russland radikal um. Bei allen Problemen, Rückschlägen, Fehlentwicklungen, bei aller notwendigen und unverzichtbaren Kritik am späteren stalinistischen Terror, erstmals nahmen einfache Arbeiter und Bauern ihre Geschicke selbst in die Hand.

Auch wenn die kommunistische Partei schnell zur Einsicht kam, dass es ob der Rückständigkeit der des Landes und der Schwäche der Arbeiterklasse besser ist, die Macht stellvertretend, paternalistisch für die Klasse auszuüben, eröffneten sich für die einfachen Menschen aller Nationalitäten entscheidende zivilisatorischen Möglichkeiten. Dass die sowjetrussischen Revolutionäre trotz allem Bemühen um die Weltrevolution schließlich allein blieben machte die Herausforderung und ihre Risiken umso größer. Trotzdem: Ihnen bleibt mit Rosa Luxemburg das Verdienst, dass sie "die ersten (waren), die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab's gewagt![10]

IV.

Wesentlich war die internationale Wirkung dieser Revolutionen und der russischen Entwicklungen. Der Sturz des Zaren, erst recht Lenins Dekret über den Frieden beförderten in allen kriegsführenden Mächten den Aufschwung der Antikriegsbewegung. Im Frühjahr und Sommer 1917 kam es zu Soldatenverbrüderungen, Meutereien in der französischen Armee und in der deutschen Flotte. Die Russen wurden im Januar 1918 die Vorbilder für die großen Munitionsarbeiterstreiks in Deutschland und Österreich-Ungarn. Der wahnwitzige Raubfrieden der Mittelmächte von Brest-Litowsk verhinderte deren Niederlage nicht.

Das Ende des Krieges – bei aller Einsicht der deutschen Generalität - war Resultat des veränderten Kräfteverhältnisses. US-Amerikaner im Westen, "rote Gefahr" im Osten, die zunehmende Bereitschaft, gegen den Krieg zu streiken, zu demonstrieren, schließlich zu Meutereien und in einer bewaffneten Revolution "das Alte und Morsche" hinwegzufegen, wie Phillip Scheidemann, der sozialdemokratische Führer, es am 9. November 1918 verkündete.

Trotz der bewaffneten Macht der Arbeiter und Soldaten, trotz der Räte, trotz einer sozialdemokratischen Regierung, die sich noch Rat der Volksbeauftragten nannte, blieb allerdings offen, wohin die Reise gehen sollte Aus deutscher Perspektive erwies sich, dass die Russen zwar ein Signal geben konnten, die Bolschewiki viele Linke, viele Arbeiter beeindruckte. Gleichzeitig löste die russische Bürgerkriegsgräuel Ängste aus, nicht nur bei den Herrschenden.

V.

Zu den russischen Revolutionen tobt auch heute wieder der Streit, ob Bolschewiki oder Menschwiki ihren Marx richtig gelesen hatten, ob Russland mit seiner verhältnismäßig kleinen Arbeiterklasse, seiner "halbasiatischen Barbarei", wie es Lenin nannte, überhaupt reif war für eine Umwälzung, die nicht durch bürgerlich-demokratische, sondern sozialistische Ziele verfolgen wollte.

In Deutschland hätte es eigentlich anders sein können. Hier waren natürlich immer noch die ungelösten Aufgaben der Revolution von 1848, die demokratische Republik und die demokratischen Freiheiten zu verwirklichen, auch eine Enteignung der Großgrundbesitzer stand an. Aber ansonsten hätte doch alles reif sein müssen für den nächsten großen Schritt: eine starke Arbeiterklasse, ein hohes Maß politischer Organisiertheit – wenn auch durch die Konflikte um die Kriegsunterstützung zerstritten und gespalten -, ein hoher Entwicklungsstand von Industrie, Kultur, kulturellem Niveau.

In diesem Jahr wird sicher wieder darüber gestritten werden, was möglich gewesen wäre, warum es scheiterte. Es wird wieder Ausreden gäben: die Verhältnisse wären doch noch nicht so reif, die Angst vor einem Einmarsch der Entente lähmte diverse Linken, die Linke wäre eben keine einheitliche Linke, sondern so zerstritten, das sie bereit war, sich zu bekämpfen. Und es wird zu fragen sein nach der Haltung der Mehrheitssozialdemokraten zum alten Staat, seinen Eliten und seinem Eifer, die angeblich drohenden russischen (Bürgerkriegs-)Verhältnisse mit der Gewalt und dem Terror von Heer und Freikorps unter einem sozialdemokratischen Kriegsminister zu erwürgen.

Mit dem etwas weiteren Blick wird allerdings deutlich, dass dieser Bruch des Jahres 1917 oder auch 1918/19 weitreichende Veränderungen nach sich zog, die teilweise die nächste über 70 Jahre, in mancher Hinsicht auch darüber hinaus die Welt bis heute bestimmen.

Methodologisch würde hier auch deutlich, dass es eine Verbindung mit dem tradierten Begriff des "Revolutionszyklus" und der hier verwendeten Zuschreibung einer "Bruchzone" als einem eben nicht nur nationalen oder regionalen, sondern globalen Phänomen geht. "Beziehen wir Revolutionen nicht allein auf einzelne Gesellschaften sondern auf die globalen Verflechtungen insgesamt," so schreibt Matthias Middell, "dann verändert sich die Fragestellung, die wir an ihren Erfolg oder Misserfolg richten. Es geht dann darum, ob die Revolution eine Weichenstellung bedeutete, die ein neues Projekt der Globalisierung, d.h. der globalen Neupositionierung des jeweiligen Landes initiieren konnte."[11] Zu ergänzen bliebe die Frage, welche sozialen und politischen, aber auch ideologischen Dimensionen eine solche erweiterte Sichtweise offenbaren könnte. Für den hier relevanten Zeitabschnitt von 1914 bis 1923, also durchaus in mehr eurozentristischer Sichtweise der Zeitraum zwischen Beginn des Ersten Weltkrieges und dem Ende der revolutionären Nachkriegskrise und dem Beginn einer relativere Stabilisierung des Kapitalismus in seinen Metropolen hat dies Konsequenzen.

Linke politische Kräfte wurden mit teilweise großem Massenanhang zu wesentlichen Mitgestaltern der Politik vieler Länder, nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in Nord-, Mittel- und Westeuropa. Die 1914 ausgelöste Spaltung der Arbeiterbewegung in der Kriegsfrage war seit der Gründung der Komintern auch als weltweites Phänomen präsent. Es begünstigte Bruderkämpfe, war aber auch eine wesentliche Triebkraft, eine sozialere Politik in vielen Ländern zu befördern. Nicht zuletzt sorgten das sowjetische Beispiel und das Wirken linker Gegenmächten in vielen westlichen kapitalistischen Staaten dafür, dass die herrschenden Kreise des Kapitals ihre Politik erneuern mussten, um eine neues 1917 zu verhindern. Der Faschismus war die brutalste Antwort, der Weg hin zu einer sozialeren Ausrichtung des Kapitalismus. Jedoch war die Integration linker, sozialdemokratischer Parteien und Ideen vom New Deal bis zum rheinischen Kapitalismus der dann schließlich erfolgreichere Weg.

Direkt oder ebenso vermittelt gelang es Linken unterschiedlicher, auch verfeindeter Couleur mehr oder minder große Schritte zu Stärkung und Entwicklung einer Sozialstaatlichkeit zugunsten der arbeitenden Menschen einzuleiten. Sie werden erst mit der Durchsetzung des Neoliberalismus und dem Scheitern des Realsozialismus wie mit dem Niedergang der Sozialdemokratie in den letzten Jahrzehnten erfolgreich zurückgedreht.

Mit den Revolutionen in Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn, mit dem Zerfall der Vielvölker-Imperien entstanden zahlreiche neue Nationalstaaten, die ihren Weg zu Eigenständigkeit und Demokratie suchten. Was heute gerne verdrängt wird von den nun dort herrschenden neuen Eliten: Die meisten osteuropäischen Staaten, insbesondere aus der Erbmasse des Russischen Reiches, aber ebenso Ungarn, standen in den ersten Jahren nach 1917 vor sozialistischen Revolutionen und fanden den Ausweg in mehr oder minder faschistischen Diktaturen.

Gleichzeitig traten nationale Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika, teilweise Lateinamerika auf die Tagesordnung. Hatte Woodrow Wilson beim US-Kriegseintritt noch vollmundig das Selbstbestimmungsrecht der Nationen verkündet, so erwies sich dies für die kolonialen und halbkolonialen Gebiete als leeres Versprechen. Da war das Zuwenden der Sowjetunion und der Komintern zu den "Völkern des Ostens", wie es blumig hieß, weit ertragreicher, unabhängig davon, ob alle sozialistischen Blütenträume angesichts der oft weit nüchterneren Kalkulationen und brutalen Handlungen der nationalen Bourgeoisien aufgingen.

Zu diesen globalen Wirkungen gehört auch, dass aus den präfaschistischen Bewegungen und Ideologie – von den Alldeutschen bis zu den Schwarzhundertschaftern – der Vorkriegszeit gehärtet durch den Weltkrieg ein chauvinistischer, antisemitischer und vor allem antikommunistischer Faschismus hervorging. Trotz seiner Zerschlagung im Gefolge des von seinen Kernkräften in Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieges, nicht zuletzt des Sieges der Roten Armee, trotz der mehr oder minder intensiven Versuche seiner Ausmerzung haben Kernbestandteile dieser Ideologien und Bewegungen überdauert. Sie gewinnen in der unmittelbaren Gegenwart, teilweise bürgerlich maskiert, wesentlichen Einfluss und teilweise politische Macht.

VI.

Auch wenn es nach den zum Teil fatalen Erfahrungen mit dem Realsozialismus schwerfällt: Linke werden sich die Geschichte in der Komplexität der Revolutionen und Konterrevolutionen, der Reformen und der Diktaturen von 1917ff aneignen müssen. Dabei werden sie feststellen, dass alle antikriegs-, demokratiefordernden und nationalbefreienden Bewegungen, Emeuten und Revolutionen von beiden russischen Revolutionen des Jahres 1917 motiviert wurden (ohne dass Zeitgenossen immer genau nach dem Charakter beider Ereignisse fragten); dass eine bipolare Weltordnung und eine nun staatlich organisierte Konfrontation von Realkapitalismus und Realsozialismus auf Jahrzehnte die Welt teilte, aber auch Demokratisierung, Sozialstaatlichkeit und das Ende des Kolonialismus beförderte, dass das russische Beispiel mit seiner Komintern-gestützten Organisationkraft, Agitatoren, Geld, Roter Armee erstmals linken und nationalen Bewegungen jene Unterstützung und jenen Rückhalt gaben, den die Ausbeuterordnung immer schon und bis heute ihren Klassenfreunden gaben.

In einer solchen konsequenten Denkweise müsste eine solche Betrachtung bei aller Kritik und Selbstkritik die zivilisatorische Kraft der Russischen Revolutionen, der Bolschewiki, Lenins anerkennen und begreifen, dass das freundlicher, weniger konfrontativ daherkommende "sozialdemokratische Jahrhundert" (Ralf Dahrendorf) ohne die Existenz dieses östlichen Sozialismusversuchs und seiner kommunistischen, weltweiten Anhängerschaft nicht zustande gekommen wäre. Was aber auch heißt, dass mit der Reformunfähigkeit dieses Staatssozialismus und der ihm nahestehenden Bewegung auch die sozialdemokratische wie die anarchistische Linke spätestens seit den 1968ern scheitern musste.

Der Blick auf die Bruchzone 1914-1923 bezeugt aber auch, dass die damaligen Unsicherheiten und Konflikte unter den Linken keineswegs ausgestanden sind. Damals wie heute stehen die Optionen parlamentarische oder direkte, Rätedemokratie, damals wie heute erweist sich die Herausforderung Nation und Nationalismus für Linke als problematisch. Linke, sozialistische Politik war immer dann erfolgreich, wenn sie die Interessen der arbeitenden Menschen ernst nahm, ihnen Losungen und Lösungen anbot und, wo sie konnte, umsetzte. So groß die Begeisterung von Intellektuellen, von Bohemien für Revolutionen war, ob in Petrograd oder in München, entscheidend blieb, ob der Arbeiter und die Arbeiterin bereit war, sich für diese Veränderungen einzusetzen. Ein Problem, das auch angesichts der heutigen sozialen Wandels und des vermeintlichen Verschwinden der Arbeiterklasse, aber wohl eher der Chimäre, auf die sie reduziert wird, aktuell ist.

VII.

Nochmals soll Walter Müller zu Worte kommen, der überzeugt war, dass "der Einblick in die versäumten Möglichkeiten des Jahres 1918 die Erkenntnis der heute bestehenden revolutionären Möglichkeiten erleichtern (wird). Einsicht in begangene Fehler ist die Voraussetzung für ihre Wiedergutmachung."[12]

Wir stehen heute vor den Trümmern kommunistischer, sozialdemokratischer und auch anarchistischer Politik. Wir haben die Pflicht, es wieder zu versuchen. Das wird nicht die Reanimation der Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts bedeuten, aber ihre kenntnisreiche Aneignung. Für die heutigen und künftigen Kämpfe in einer neuen Bruchzone, markiert durch die Weltwirtschaftskrise ab 2007, den Beginn einer multipolaren Weltordnung, den Zerfall nun auch der sozialdemokratischen Linken und - besonders gefährlich - den Aufstieg nationalistisch-konservativer Kräfte, kann die Erfahrung der Möglichkeit sozialer und politischer Kämpfe gegen den Krieg, gegen die Not, gegen die Unterdrückung und die Ausbeutung Mut machen und inspirieren.

Vielleicht ist die Polemik von Marx und Engels 1879 nach der Niederlage der 1848er Revolution, nach dem Zusammenschießen der Pariser Kommunarden und unter dem Druck der Sozialistengesetze gar nicht so antiquiert. Gegen die Angepassten und Ängstlichen polemisierten sie in einem Brief an die Führer der deutschen Sozialdemokratie gegen diejenigen, die das revolutionäre Programm zwar nicht aufgeben, sondern aufschieben wollen "bis auf unbestimmte Zeit. Man nimmt es an, aber eigentlich nicht für sich selbst und für seine Lebzeiten, sondern posthum, als Erbstück für Kinder und Kindeskinder. Inzwischen wendet man seine 'ganze Kraft und Energie' auf allerhand Kleinkram und Herumflickerei an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, damit es doch aussieht, als geschehe etwas und gleichzeitig die Bourgeoisie nicht erschreckt werde."[13]

Solange Ausbeutung, Unterdrückung, Benachteiligung, Entmündigung auf der Tagesordnung stehen haben linke Kräfte due Pflicht zum Überzeugen, zum Kämpfen. Historische Erfahrungen können helfen, das Handeln aber findet im Hier und Heute statt.

Anmerkungen

[1] Walter Müller: Wenn wir 1918 ... Eine realpolitische Utopie. Rostock 2003 [Erstausgabe: 1930], S. 29 - hier: ein fiktiver Bericht im Vorwärts - 29. November 1918.

[2] Siehe stellvertretend für die entsprechenden Aktivitäten im Umfeld von einstiger PDS und heutiger Partei Die Linke und der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit ihren Landesstiftungen: z.B. Historische Kommission beim Parteivorstand der PDS (Hrsg.): Der Stalinismus in der KPD und SED. Wurzeln, Wirkungen, Folgen. Materialien der Konferenz der Historischen Kommission beim Parteivorstand der PDS am 17. und 18. November 1990. Berlin 1991; Klaus Kinner (Hrsg.): Die Linke - Erbe und Tradition. Teil 1: Kommunistische und sozialdemokratische Wurzeln. Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus. Bd. XI. Berlin 2010; ders. (Hrsg.): Die Linke - Erbe und Tradition. Teil 2: Wurzeln des Linkssozialismus. Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus. Bd. XII. Berlin 2010; ders. (Hrsg.): Linke zwischen den Orthodoxien. Von Havemann bis Dutschke. Berlin 2011.

[3] Zu diesem Ansatz siehe Ulf Engel/Matthias Middell: Bruchzonen der Globalisierung, globale Krisen und Territorialitätsregime – Kategorien einer Globalgeschichtsschreibung. In: Comparativ. Leipzig. H. 5/6 (2005), S. 5-38.

[4] Siehe Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013, 4. A.

[5] Außerordentlicher Internationaler Sozialisten-Kongress zu Basel am 24. und 25. November 1912. Berlin 1912, S. 23.

[6] Karl Liebknecht: Der Hauptfeindsteht im eigenen Land! Flugblatt. Mai 1915, In: ders.: Gesammelte Reden und Schriften. August 1914 bis April 1916. Bd. VIII. Berlin 1982, S. 229f.

[7] Wladimir Iljitsch Lenin: Sozialismus und Krieg (Die Stellung der SDAPR zum Krieg). In: ders. Werke. Bd. 21, Berlin 1972, S. 314.

[8] Siehe Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918. Berlin 2013, bes. Kap. 8 und 9.

[9] Siehe Gerd Krumeich: Der Dolchstoß war nicht nur eine Legende. Die deutschen Truppen hätten 1918 weiterkämpfen können, aber in der Heimat hatte man den Krieg satt. In: FAZ vom 10.07.2017, S. 13.

[10] Rosa Luxemburg: Zur russische Revolution. In: dies.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Berlin 1974, S. 365.

[11] Matthias Middell: Neue Diskussionen um die Erklärung der Französischen Revolution. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät. Bd. 128 (2016). Berlin 2016, S. 51.

[12] Walter Müller: Wenn wir 1918 ... A.a.O., S. 259.

[13] Karl Marx/Friedrich Engels an August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Wilhelm Bracke u.a. in Leipzig (Zirkularbrief) (Entwurf). [London, 17./18. September 1879. In: dies.: Werke. Bd. 34. Berlin 1966, S. 304.