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Konferenz "Epochenbruch 1914-1923"

Die dritte Front. Willi Münzenberg und die Jugendinternationale

Dr. Uwe Sonnenberg

Der bisherigen Diskussion folgend kann ich gut an die von Detlef Siegfried gehörte „utopische Politik“ und den von Bernhard H. Bayerlein vorgestellten Konzepten der Weltrevolution anknüpfen. Am Ende meines Beitrages eröffne ich mit Blick auf unser Tagungsthema aber noch eine nächste Perspektive. Das macht die Sache nicht einfacher. Mein Thema hier in der Sektion zu Akteuren und Biographien ist wie angekündigt: Willi Münzenberg und die Jugendinternationale.[1]

Über die „großen“ Internationalen – die erste, zweite und die dritte – ist vergleichsweise vieles bekannt, nicht zuletzt auf der Grundlage der seit der „Archivrevolution“ einsehbaren Bestände.[2] Zur Geschichte der Jugendinternationale aber gab es bislang noch keine umfassend archivgestützte Forschung.[3] Auch als eigenständiger Akteur in der Zeit, die wir hier verhandeln, wird sie selten betrachtet. Das meiste, das wir über sie wissen, wissen wir von Willi Münzenberg – aus einem dafür sehr berufenen Munde. Allerdings ist auch das kaum bekannt.

Münzenberg war nicht nur einer der schillerndsten Verleger und Propagandisten, den der deutsche Kommunismus hervorgebracht hatte. Er war nicht nur prominenter Gegenspieler von Goebbels und ein als genial beschriebener Organisator weltweiter transnationaler Solidaritätsbewegungen der Zwischenkriegszeit.[4] Seine prägenden Jahre, seine Lehrjahre, die Jahre, in denen er diese Fähigkeiten und Talente erst entwickelte, verbrachte er in den Zehner-Jahren des 20. Jahrhunderts in der internationalen Jugendbewegung – und zwar an zentraler Stelle und in zentraler Rolle. Es gibt Darstellungen, in denen er beschrieben wird, als eine der wenigen Führungsfiguren der sozialistischen Jugendorganisationen im internationalen Maßstab.[5]

Mehrfach berichtete Münzenberg selbst über deren Geschichte vor und während des Ersten Weltkrieges.[6] Am eindrücklichsten und erfolgreichsten geschah das 1929/30 anlässlich des zehnten Geburtstages der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI), als er im Neuen Deutschen Verlag seine „Aufzeichnungen aus 15 Jahren proletarischer Jugendbewegung“ veröffentlichte. Das ist der Untertitel des Buches, das überschrieben ist mit: „Die dritte Front“.[7] Inmitten der kriegführenden Staaten und in Auseinandersetzung mit den Sozialdemokratien der kriegführenden Staaten hatte die Jugendinternationale – in der Rückschau von Willi Münzenberg aber auch zu großen Teilen in ihrem eigenen Selbstverständnis – eine DRITTE FRONT gebildet.

Die in diesem Buch entfaltete Geschichte ist eng mit Münzenbergs Biographie verknüpft. Es ist in vier Kapiteln chronologisch aufgebaut. Ganz oft schreibt er von „wir“, einige Absätze sind aus der „Ich“-Perspektive formuliert. Neue Linke aus Westdeutschland haben das Buch Ende der 1960er Jahre wieder entdeckt und mehrfach nachgedruckt.[8] Es ist ein kleines Experiment: Ich habe es für unsere Tagung noch einmal gelesen und möchte in der mir zu Verfügung stehenden Zeit letztlich nichts weiter machen, als meine Lektüreeindrücke wiederzugeben.

Was ist der Darstellung Willi Münzenbergs über die „dritte Front“ und nicht zuletzt über ihn selbst zu entnehmen?

(I)

Das erste Kapitel widmet sich „Aufstieg und Niedergang der ersten proletarischen Jugendorganisationen in Deutschland“. Es setzt 1906 in Erfurt mit dem Arbeiterbildungsverein „Propaganda“ ein. Diese Vereine bildeten neben der Partei, der Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung so etwas wie die vierte Säule der Sozialdemokratie. 17-jährig kam der Lehrling Willi Münzenberg damals das erste Mal mit dem Bildungsverein in Kontakt. Münzenberg entstammte äußerst prekären Verhältnissen. Im Arbeiterbildungsverein erlebte er ganz neue Erweckungsgefühle, ein Lesehunger erfasste ihn. In der Forschung wird er heute als ein Paradebeispiel für den Typus des „Arbeiterintellektuellen“ genannt[9] – eine Entwicklung, die beim Erfurter Arbeiterbildungsverein 1906 begann.

Als Münzenberg dem Verein beitrat, waren noch immer Schinderei, Misshandlungen und fast feudal anmutende Verhältnisse zum Dienstherren die Regel für Lehrlinge in ihrer Ausbildungszeit. Münzenberg beschreibt das am eigenen Beispiel. Sie galten nicht als eigene Statusgruppe, und sie besaßen auch keine Interessenvertretung. Sich politisch zu organisieren, war ihnen nach dem Vereinsgesetz verboten.[10]

Dennoch gründeten sich ab 1904 – nach dem aufrüttelnden Selbstmord eines Berliner Lehrlings – reichsweit viele unabhängige proletarische Jugendorganisationen, die mit neuem Selbstbewusstsein für die eigenen Rechte nicht zuletzt auch gegenüber einer Arbeiterklasse der Erwachsenen einzutreten begannen. Mit der sogenannten Süddeutschen und einer Norddeutschen Vereinigung erhielten sie zwei größere Dachverbände. Faktisch wurde durch eine Vielzahl neuer Mitglieder nur ein Jahr nach Münzenbergs Eintritt auch aus dem Erfurter Arbeiterbildungsverein eine Jugendorganisation, die bald selbst nur noch als „Freie Jugend Erfurt“ agierte.

Münzenberg macht diese Transformation transparent und erwähnt auch, wie er während einer nicht näher bezeichneten Volksversammlung zu dieser Zeit seine erste Rede hielt. Dem Erfurter Allgemeinen Anzeiger zufolge habe er dabei den „Vogel abgeschossen“. Ein Kronprinz – so rechnete Münzenberg vor, als er das Wort ergriff – sei mit 18 Jahren reif genug zu regieren, und sie – die Arbeiterjugend – würde mit 20 Jahren noch immer nicht als reif genug angesehen werden, das Wahlrecht auszuüben.[11]

Das Kapitel endet mit der Auflösung der beiden benannten reichsweiten Dachverbände. Es beschreibt wie die meisten selbstständigen Jugendorganisationen ab 1908 folgende Jahre von den Partei- und Gewerkschaftsapparaten wieder eingefangen wurden und ihre Unabhängigkeit verloren. Münzenberg ist in seiner Darstellung ganz entschieden. Er hatte sich selbst an den Organisierungsprozessen beteiligt, war auch Vorsitzender der „Freien Jugend Erfurt“ geworden und hatte unter der Hand mit diebischer Freude Die junge Garde verteilt. Das war die in Erfurt verbotene Zeitung der Süddeutschen Vereinigung aus Mannheim, mit einem Namen – die junge Garde –, dem wir in der Geschichte der internationalen Jugendbewegungen an mehreren Orten noch zu anderen Zeiten begegnen werden.

Münzenberg schreibt weiterhin wie selbstverständlich von „Reformisten“ in den Partei- und Gewerkschaftsapparaten. Dabei wird allerdings nicht deutlich, ob dieser Wortwahl der zeitgenössische Revisionismusstreit zugrunde lag oder die spätere Abgrenzung des Revolutionärs herauszulesen ist. In der SPD jedenfalls zeugten von der kurzen Blüte der unabhängigen Jugendorganisationen seit dieser Zeit erstens neue Jugend-Ausschüsse, die sich insbesondere um die kulturelle Erbauung von Jugendlichen kümmern sollten. Zweitens wurde eine „Zentralstelle für die arbeitende Jugend“ eingerichtet, eine Kommission – bis 1918 unter dem Vorsitz Friedrich Eberts –, der Vertreter der Partei, der Gewerkschaft und der Arbeiterjugend angehörten.  

Münzenberg selbst verlor in Erfurt spätestens nach der Unterstützung eines Generalstreiks 1909 seine berufliche Perspektive. Wie so viele ging er daraufhin auf Waltz – auch hierzu finden sich sozialhistorisch spannend zu lesende Ausführungen im Buch. Die Wanderschaft führte ihn 1910 bis in die Schweiz.

(II)

Damit beginnt das zweite Kapitel des Buches, das längere Abschnitte zur Geschichte der sozialistischen Jugendorganisationen in der Schweiz vor 1914 enthält. Münzenberg fand dort schnell Anschluss und offensichtlich auch großen Anklang. 1912 stieg er in den Zentralvorstand der Sozialdemokratischen Jugendorganisation der Schweiz auf. Er übernahm die Redaktion ihres Zentralorgans Die Freie Jugend. Seine Wohnung in Zürich wurde Redaktions- und auch Kontaktadresse für die Jugendorganisation. Er durchlebte eine sehr romantische Phase – wie er schreibt –, versuchte sich als Arbeiterdichter, und er schreibt auch davon, wie die schweizerische Jugendbewegung „nach Aktion“ und „nach Leben“ gehungert habe.[12]

Bezogen auf das Tagungsthema wird der Ort sehr wichtig: Zürich. Der Psychologe und „Armenarzt“ Fritz Brupbacher, zu dieser Zeit ein wichtiger Mentor für Münzenberg und auch einer seiner Förderer, erläutert das im Vorwort:

„Das Vorkriegs- und Kriegs-Zürich war ein glänzendes Chaos. Auf einem Hintergrund von etwa 200.000 Bürgern und verbürgerlichten Arbeitern tummelten sich tausend Geister aus aller Herren Welt: Russische Bolschewiki und Menschewiki, revolutionäre Syndikalisten und Anarchisten aus Italien, Polen, Deutschland, Rußland, Österreich. Marx-, Bakunin-, Kropotkin-, Stirner-Bazillen schwirrten nur so in der Luft herum. Was alles gärte in Europa, sandte auch einen Vertreter zu dem roten Völkerbund nach Zürich. Und in diese Gärungsatmosphäre hinein kam auch der junge Willi Münzenberg und gärte mit und wuchs…“[13]

Ein internationaler HotSpot würden wir heute sagen, ein Zentrum – in diesen Jahren vermutlich nicht zufällig auch der Geburtsort von DaDa.

(III)

Der Erste Weltkrieg mischte auch dort die Karten neu und radikalisierte insbesondere viele Jugendgruppen. Bekanntlich war die II. Internationale eines der ersten Opfer des Ersten Weltkrieges. Auch das 1907 eingerichtete Büro der „Internationalen Verbindung der sozialistischen Jugendorganisationen“ (so der offizielle Titel)[14] stellte seine Arbeit mit Verweis auf die Mutterparteien mehr oder weniger ein. Beim damaligen Sekretär Robert Danneberg (Wien) habe ein Schild darüber informiert: „Wegen des Weltkrieges bleibt das Büro vorübergehend geschlossen“.[15] Eine Mut- und Ratlosigkeit, gegen die Münzenberg und seine Genossinnen und Genossen in der Schweiz umso kämpferischer aufstanden.

Für Ostern 1915 organisierten sie im Volkshaus in Bern eine internationale Jugendkonferenz und damit – laut Münzenberg – die erste öffentliche Manifestation von Sozialistinnen und Sozialisten gegen den Krieg überhaupt.[16] An der Jugendkonferenz nahmen Delegierte aus zehn Ländern teil.[17] Sie begründeten das internationale Jugend-Sekretariat neu und verlegten es von Wien nach Zürich, wo es:

  • fortan die Zeitschrift Jugend-Internationale herausbrachte, die in den Kriegsjahren auf immerhin elf Nummern mit einer Gesamtauflage von 300.000 Exemplaren kam.[18]
  • Das Jugendbüro veranstaltete ferner europaweit „internationale Jugendtage“, an deren Kundgebungen sich schon 1915 120.000 Personen beteiligt haben sollen.[19]
  • Es hielt durch die Fronten des Krieges mit intensiver Korrespondenz den Kontakt zwischen den Jugendgruppen aufrecht,[20]
  • organisierte den Schmuggel von Propaganda über Deckadressen und eigene Grenzstellen,
  • und es richtete einen „Liebknecht-Fond“ zur Unterstützung des antimilitaristischen Kampfes ein.

Zum Sekretär des neuen internationalen Jugendbüros war Willi Münzenberg berufen worden. In dieser Funktion und mit diesen Aufgaben kam der nunmehr Fulltime-Politaktivist in regelmäßigen Austausch ebenso mit dem Kreis russischsprachiger Emigranten um Lenin.

Die Verbindung zu Lenin und seiner Gruppe nimmt in dem dritten Kapitel des Buches einen vergleichsweise großen Raum ein.[21] Entfaltet wird eine Art Lehrer-Schüler-Verhältnis, das sich entwickelt habe, wobei Lenin den rechten Weg wies. Münzenberg:

„Hier hatten wir endlich die Männer gefunden, die uns nach jahrelangem Suchen den richtigen Weg zu einer fruchtbaren revolutionären Arbeit zeigten. Wir waren lange vor dem Kriege, bei Kriegsausbruch und während des Krieges ohne zu schwanken und zu zögern gegen den Krieg. Wir waren voller Zorn über den Verrat der sozialdemokratischen Führer bei Kriegsausbruch. Wir waren junge Revolutionäre, die nur ein Ziel kannten, die Revolution zu machen und die Welt zu ändern.“[22]

Ein paar Seiten später geht Münzenberg sogar so weit zu behaupten, dass Lenin „unsere Jugendorganisation“ ab 1916 „als seine Gruppe betrachten“ konnte. „Wir kämpften für sein Programm und wären für ihn durchs Feuer gegangen.“[23]

Fürwahr eine Glorifizierung, eine Ikonisierung. Eine Zuneigung aber auch, die zu diesem Zeitpunkt offenbar auf Gegenseitigkeit beruhte. Als Lenin damals jenseits der zusammengebrochenen II. Internationale noch keinen großen Namen besaß, fand er in der Zeitschrift Jugend-Internationale eines seiner wenigen und wichtigsten Publikationsorgane.[24] In seinem berühmten Brief an die Schweizer Arbeiter, kurz vor seiner Abreise nach Petrograd 1917 – der in dem Buch auch ausführlich wiedergegeben wird – bedachte er die Jugendgruppe um Münzenberg mit einem extra Gruß.[25] Schließlich war es auch die Wohnung Münzenbergs – zugleich das Büro des internationalen Jugendsekretariats –, in der sich die Zimmerwalder Linke kurz vor der Abfahrt des „plombierten Zuges“ aus Zürich ein letztes Mal zusammenfand.

(IV)

Das russische Beispiel war für Münzenberg fortan Verheißung und wurde ihm für viele Jahre leuchtendes Vorbild. Die meiste Zeit des Jahres 1918 aber verbrachte er erst verhaftet und dann interniert in Schweizer Gefängnissen, bis er am 10. November als „mißliebiger Ausländer“ ausgewiesen und damit direkt in die Arme der deutschen Revolution 1918/19 geworfen wurde.

Damit gelangen auch wir ins vierte und letzte Kapitel des Buches.

Als Spartakist beteiligte sich Münzenberg sofort an verschiedenen revolutionären Ereignissen. In Stuttgart sei er es am 9. Januar 1919 gewesen, der im Namen der Arbeiter- und Soldatenräte bei einer Rede im Schloßhof die Stadtverwaltung für abgesetzt erklärt habe.[26] Von Stuttgart aus versuchte er zunächst auch die Fäden der Jugendinternationale neu zu knüpfen. Dafür überließ ihm der Arbeiter- und Soldatenrat ein Zimmer im Königlichen Landtagsgebäude. Als Delegierter aus Württemberg nahm er zuvor bereits zwischen dem 16. und 21. Dezember 1918 am Ersten Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin teil, wo er sich am Rande auch mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Leo Jogiches über die bevorstehenden Aufgaben und Ziele der Jugendarbeit austauschte.

Weil der Verfolgungsdruck gegen ihn in Württemberg zu hoch geworden war, zog er in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 vollständig nach Berlin.[27] Dort konnte im November auch eine nächste Jugendkonferenz abgehalten werden. Um der Überwachung zu entgehen, fand sie jeden Tag an einem anderen Ort statt,[28] bis sie schließlich im Hinterzimmer einer Neuköllner Kneipe mit der Gründung der KJI endete. Willi Münzenberg hielt dort nicht nur den Hauptvortrag über das Programm der Jugendorganisationen, die Delegierten aus 14 Ländern bestimmten ihn auch zu ihrem ersten Vorsitzenden.[29]

In den darauffolgenden Abschnitten des Buches springen wir mit ihm auf atemberaubende Weise durch mehrere Länder. Mit beachtlichen Erfolgen waren er und seine Vertrauten aus dem Büro der Jugendinternationale unterwegs, der Organisation neue Mitglieder zuzuführen. Für sie schien es keine Grenzen gegeben zu haben: Dänemark, Schweden, Frankreich, CSR, Österreich, mehrere Haftbefehle, konspirative Treffen, illegale Papiere, Lokale und Quartiere…

Ein Jahr nach ihrer Gründung hatten sich der KJI nach offiziellen Angaben 49 Jugendverbände angeschlossen, die in ihrer Summe 800.000 Mitglieder vertraten und auch außerhalb Europas vertreten waren.[30] Diese globale Dimension wird oft vergessen – und diese Jugendgruppen schufen vielfach erst die Basis, auf der die Komintern später als realer politischer Akteur auftreten konnte. Aus einigen der Jugendverbände waren die nationalen Kommunistischen Parteien sogar erst hervorgegangen.

Innerhalb der KJI setzte jedoch schnell ein Ringen um ihre Autonomie ein. Im Gründungsstatut hieß es noch:

„Die Kommunistische Jugendinternationale steht auf dem Boden der Entschließungen des ersten Kongresses der III. Internationale und bildet einen Teil dieser kommunistischen Internationale. Die Zentrale der Kommunistischen Jugendinternationale ist organisatorisch mit der III. Internationale verbunden und arbeitet mit ihr in engster Kampfgemeinschaft.“[31]

Organisatorisch verbunden, nicht eingebunden. Für Münzenberg war das eine prinzipielle Frage. Der Kampf um die Selbstständigkeit der Jugendorganisationen hatte ihn seit 1906 nachhaltig geprägt, und er setzte sich auch weiter mit Überzeugung dafür ein, nicht zuletzt aus dem Bewusstsein heraus, in der Vergangenheit aufgrund der Selbstständigkeit tatsächlich unabhängig gehandelt zu haben. Eine Unabhängigkeit, die nach seiner festen Überzeugung auch für die politische Meinungsbildung der Jugendlichen von enormer Bedeutung war.

Im Verband aber teilten immer weniger seine Einschätzung, insbesondere jene offenbar, die erst durch den Zusammenbruch der alten Ordnungen freigesetzt wurden, jene, die die Vorgeschichte der Arbeiterjugendorganisationen und ihre Auseinandersetzungen mit den „Mutterparteien“ nicht kannten. Für sie wurde es immer selbstverständlicher, sich ihnen auch organisatorisch einzugliedern.

Das Moskauer Exekutivkomitee der Komintern machte aus seiner entsprechenden Erwartungshaltung keinen Hehl. In „Die dritte Front“ ist leider nur wenig zu erfahren, auf welche Weisen es in das Berliner Büro reinregierte und die Treffen der Jugendinternationale mit taktischen Mitteln manipulierte,[32] bis hin dazu, dass der 2. Kongress der KJI im Sommer 1921 entgegen der ursprünglichen Planung erst in Moskau stattfand und dann auch noch den Beschluss herbeiführte, sogar die eigene Zentrale aus Berlin nach Moskau zu verlegen – nach allem, was wir wissen: gegen den ausgesprochenen Willen von Münzenberg.

Münzenbergs Demission war nicht mehr aufzuhalten. Immerhin erinnerte sich Lenin in diesen Tagen an seinen Weggefährten aus Züricher Zeiten und betraute ihn mit der Koordinierung der internationalen Hilfe zur Unterstützung der von Hunger geplagten russischen Bevölkerung. Münzenberg schuf daraus in den folgenden Jahren mit der Internationalen Arbeiterhilfe das größte weltumspannende Solidaritätsnetzwerk in der Geschichte der Arbeiterbewegung.[33]

Darüber gibt das Buch dann keine weitere Auskunft. Als einziger Ausblick schimmert in einem kurzen Kommentar nur eine leichte Verärgerung über die weitere Entwicklung der Jugendorganisationen durch. Zeitgenossen konnten zwischen den Zeilen sehr gut verstehen, wenn Münzenberg schreibt:

„Wahrlich, die kommunistische Jugendbewegung hätte heute mehr Mitglieder in der Welt, wenn sich ihre Leiter öfter an diese Worte Lenins erinnern würden“, wonach man [Zitat Lenin]: „weitherziger und kühner, kühner und weitherziger und nochmals weitherziger und noch einmal kühner unter der Jugend werben muß, ohne sie zu fürchten.“[34]

Für Münzenberg jedenfalls waren in Moskau 1921 fünfzehn Jahre proletarische Jugendbewegung und damit auch dieses Buch an ihr Ende gekommen.

(V)

Erlauben Sie mir noch ein paar abschließende Bemerkungen. Die Sprache im Buch ist geprägt durch einfache Sätze, kaum reflexiv. Es ist als Erinnerungsbuch verfasst, gespickt mit vielen Anekdoten, die mit Leichtigkeit vorgetragen werden. Beim Lesen erhält es fast etwas Abenteuerliches, wenn Münzenberg die Umstände seiner vielen Gefängnisaufenthalte darstellt. Ein bisschen was Stolzes und manch Großspuriges sind auch dabei. Als Münzenberg dieses Buch 1929/30 schrieb, war er ja bereits eine im Rampenlicht der Weimarer Republik stehende Person und sein späterer Bruch mit der Komintern noch in keiner Weise abzusehen. Dieser Kontext muss immer mitgelesen werden.

Aber er beschreibt keine gradlinige, konsistente Entwicklung, jedenfalls keine im Sinne von: die Geschichte laufe ohnehin nur auf ein Ziel hinaus. Ganz im Gegenteil – auch das wird in dem Buch deutlich:

Bei Willi Münzenberg musste gehandelt werden; es hätte auch anders kommen können. Dabei hatte die „dritte Front“ in diesen fünfzehn Jahren mehrfach für Brüche gesorgt. Auch das wird mitunter genüsslich beschrieben, wenn zur Erweiterung der KJI Fakten geschaffen und bewusst Spaltungen von anderen Jugendverbänden herbeigeführt wurden. Das waren im Handgemenge des erhitzten tagespolitischen Geschäfts aber allesamt ideologisch aufgeladene strategische Brüche mit sogenannten „zentristischen“, „rechtsopportunistischen“ oder „sozialpatriotischen“ Kräften, über die wir ganz verschiedener Meinung sein können.[35] Als stalinisierte Politiktechnik eingesetzt zeitigten sie später in den 1920er Jahren jedenfalls verheerende Wirkungen.

Den Epochenbruch aber, Anfang des 20. Jahrhunderts, den haben andere vollzogen. Die hier von Münzenberg beschriebene Jugend entfesselte keinen Krieg und trug keine Verantwortung an der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts.

Vielmehr ist an ihrem Beispiel eine erstaunliche Kontinuität zu erleben: an Ideen, Idealen und Hoffnungen, die noch in der II. Internationale geboren, durch die Jugendinternationale als erstes wieder aufgegriffen und in gewissem Sinne am aufrichtigsten vertreten wurden. In gefühlter Übereinstimmung mit ihnen trugen sie sie weiter, über den Epochenbruch hinweg und durch den Epochenbruch hindurch. Die Jugendinternationale verband damit die Zeiten. Diesen Eindruck erhält jedenfalls, wer „Die dritte Front“ liest. Ihn zu überprüfen, bedarf es weiterer Forschung.

 

 

Anmerkungen:


[1] Annotierte Fassung eines Vortrages, gehalten am 24. Februar 2018 im Rahmen der Berliner Tagung „Epochenbruch 1914-1923. Krieg, Frieden, soziale Revolution“.

[2] Vgl. z.B. Julius Braunthal: Geschichte der Internationale, 3 Bde., Dietz, Hannover 1971ff.; Hermann Weber, Bernhard H. Bayerlein, Jakow Drabkin und Gleb J. Albert (Hg.): Deutschland, Russland und die Komintern, 3 Bde., De Gruyter, Berlin/Boston 2014f.; Wladislaw Hedeler und Alexander Vatlin (Hg.): Die Weltpartei aus Moskau. Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale 1919. Protokoll und neue Dokumente, Akademie Verlag, Berlin 2008; Michael Buckmiller und Klaus Meschkat (Hg.): Biographisches Handbuch der Kommunistischen Internationale. Ein deutsch-russisches Forschungsprojekt, Akademie Verlag, Berlin 2007.  

[3] Von einer großen Ausnahme abgesehen, Richard Cornell: Revolutionary Vanguard. The Early Years of the Communist Youth International 1914 – 1924, University of Toronto Press, Toronto/Buffalo/London 1982. Das Werk wurde 2015 wieder aufgelegt, basiert aber weiterhin nur auf den bis 1982 zugänglichen Quellen.

[4] Die von seiner Lebensgefährtin verfasste Biographie ist noch immer die beste Einführung in das Leben Willi Münzenbergs, Babette Gross: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, DVA, Stuttgart 1967.

[5] Vgl. Stefan Schneider, Tom Hirschfeld, Jalava Hugo (Red.): Die Berliner Jahre der Kommunistischen Jugendinternationale. Der Kampf um die Unabhängigkeit der KJI zwischen ihrer Gründung 1919 und ihrem zweiten Kongress 1921, Selbstverlag, Hamburg 2010.

[6] Vgl. z.B. Willi Münzenberg: Aus der Geschichte der sozialistischen Jugendbewegung der Schweiz, Sozialistische Jugend-Bibliothek, Zürich 1917; Ders.: Die sozialistischen Jugend-Organisationen vor und während des Krieges, Verlag Junge Garde, Berlin 1919; Ders.: Die sozialistische Jugend-Internationale, Verlag Junge Garde, Berlin 1919; Ders.: Die proletarische Jugendbewegung bis zur Gründung der Kommunistischen Jugendinternationale. Rede gehalten vor den Hörern der marxistischen Arbeiterschule Berlin November 1928, Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1929.

[7] Willi Münzenberg: Die dritte Front. Aufzeichnungen aus 15 Jahren proletarischer Jugendbewegung, Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1930. Der dem Neuen Deutschen Verlag nahestehende Buchclub Universum-Bücherei für Alle nahm den Titel 1931 ebenfalls in sein Programm auf.

[8] Willi Münzenberg: Die dritte Front. Aufzeichnungen aus 15 Jahren proletarischer Jugendbewegung, LitPol, Berlin (West) 1978. Verlegt ebenfalls im Verlag Roter Stern (Frankfurt am Main, 1972). Einen letzten Reprint besorgte der Wiener Verlag Der Funke 2015. Wenn im Folgenden aus „die dritte Front“ zitiert wird, dann beziehen sich die Angaben auf die 1978er Ausgabe.

[9] Vgl. Mario Kessler: Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker (1909-1998), Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2007. Kessler beschreibt als womöglich „brillianteste[n] selbstständig gebildete[n] Arbeiterintellektuelle[n]“, ebd. S. 54.

[10] Auch in SPD und Gewerkschaften spielten ihre Belange kaum eine Rolle, im Gegenteil – wie Scholle/Schwarz zusammenfassen: „Immer wieder wurden ihre Erfolge auf Kosten der Lehrlinge durch die Unternehmen und Betriebe kompensiert. In der ‚erwachsenen‘ Arbeiterbewegung herrschte ein traditionelles Arbeitsbild. Die Jugend sollte die Ausbeutung durch Lohnarbeit erfahren, um ein proletarisches Klassenbewusstsein zu entwickeln und sich gehorsam auf Parteilinie einzureihen. Immer wieder wurden einzelne Ansätze für eigenständige Jugendangebote abgebügelt.“ Thilo Scholle und Jan Schwarz: „Wessen Welt ist die Welt?“ Geschichte der Jusos, mit einem Geleitwort von Andrea Nahles und Sascha Vogt, Vorwärts-Buch, Berlin 2013, S. 28.

[11] Münzenberg: Die Dritte Front, S. 48f. 

[12] Willi Münzenberg: Die dritte Front, S. 89ff.

[13] Fritz Brupbacher: Vorwort, in ebd., S. 7f.

[14] 1907 im Anschluss an den Kongress der II. Internationale in Stuttgart gegründet. Der erste Vorsitzende 1907 hieß Karl Liebknecht.

[15] Willi Münzenberg: Die dritte Front, S. 153. Danneberg sei wie Karl Kautsky der Meinung gewesen, eine Internationale funktioniere nur in Friedenszeiten, ebd.

[16] Zwar wird in der Literatur in diesem Zusammenhang oft auf die internationale Frauenkonferenz unter der Leitung von Clara Zetkin hingewiesen, die einige Wochen zuvor ebenfalls in Bern stattfand. Münzenberg gibt jedoch zu bedenken, dass sie – wie im übrigen auch die Zimmerwalder Konferenz fast ein halbes Jahr später – geheim durchgeführt worden war, vgl. Ebd., S. 158.

[17] Deutschland und Russland nicht einberechnet vertraten sie in ihren Organisationen 33.800 Mitglieder, ebd. S. 160.

[18] Ebd., S. 198ff. sowie S. 203f.

[19] Ebd., S. 207ff.

[20] Dazu gehörten im Herbst 1915 bereits Jugendgruppen aus Dänemark, Schweden, Holland, Schweiz, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Italien, Österreich, Deutschland, USA, Kanada, Spanien, Frankreich, Belgien, später noch Ungarn, Finnland, vgl. ebd., S. 196f. „1918 waren sämtliche bestehenden sozialistischen Jugendorganisationen außer der deutschen Zentralstelle in Berlin, der holländischen in Amsterdam und dem französischen Nationalkomitee in Verbindung mit dem internationalen Büro und wir zählten insgesamt 220.000 Mitglieder der internationalen Verbindung.“ Ebd., S. 197.

[21] Münzenberg schreibt selbst: „Wenn einmal die Geschichte der proletarischen Jugendbewegung geschrieben wird, muß in dem Abschnitt ‚Die Jugendbewegung während des Krieges‘ der Teilnahme Lenins an der Entwicklung der Jugendinternationale ein breiter Raum gegeben werden.“ Ebd., S. 233.

[22] Ebd., S. 228

[23] Ebd., S. 232.

[24] Lenin: „Münzenberg hat mir eine Zeitung und eine Plattform zu Verfügung gestellt, als wir während des Krieges nirgendwo unsere Ideen veröffentlichen konnten.“ Zit. nach Babette Gross: Willi Münzenberg, S. 179. 

[25] Lenin: „Wir denken an die tapfere jugendliche Vorhut, die um die ‚Freie Jugend‘ gruppiert, mit revolutionärem Elan gegen all die Gebrechen ankämpft, die die schweizerische Sozialdemokratie nicht minder wie jede andere der europäischen Sozialdemokratischen Parteien schwächen und kampfesunfähig machen.“ Zit. nach Willi Münzenberg: Die dritte Front, S. 233. Die Auflage der von Münzenberg redigierten Zeitschrift, Die Freie Jugend, stieg von 55.000 1914, in monatlicher Erscheinungsweise, auf 185.000 Exemplare 1917 bereits in 14-tägiger Erscheinungsweise. Vgl. ebd., S. 189.

[26] Ebd., S. 276f. Ein Tag lang war auch die Redaktion des Stuttgarter Tagblatts besetzt. Münzenberg betätigte sich dort als Redakteur der Zeitung Die rote Flut, von deren einziger, an diesem Tag produzierten Ausgabe während der Erstürmung des Gebäudes nur wenige Exemplare erscheinen konnten.

[27] Vom 11. Januar 1919 an saß Münzenberg in Stuttgart, Ulm und Rothenburg (Neckar) über fünf Monate in Untersuchungshaft. Es habe auch für ihn Pläne gegeben, ihn „auf der Flucht“ zu erschießen. Vor Gericht wurden er und seine Mitangeklagten (unter anderem Max Barthel, Albert Schreiner und Edwin Hoernle) vom Vorwurf des Hoch- und Landesverrats, Aufruhr und weiterer Anklagepunkte freigesprochen: „Das Gericht bestand aus zwölf Geschworenen, die sich aus Handwerkern, Kleinbürgern und Mittelbauern rekrutierten. Die achttägigen Verhandlungen waren ein Triumph für uns. Wir vermöbelten in edlem Wettstreit die Staatsanwaltschaft und die Regierung und blamierten sie gründlich. Täglich war der Zuschauerraum überfüllt. Die Geschworenen sprachen uns einstimmig frei, und der Obmann erklärte im Namen aller Geschworenen, daß sie nicht die Möglichkeit hätten, uns eine Entschädigung zuzusprechen.“ Ebd., S. 285. Die Staatsanwaltschaft strengte aber bereits neue Verfahren gegen ihn an… Vgl. auch Willi Münzenberg: Der Spartakistenprozeß in Stuttgart, Spartakus Buchdruckerei und Verlag, Stuttgart 1919 [online: https://www.muenzenbergforum.de/exponat/der-spartakistenprozess-in-stuttgart/]

[28] U.a. auch bei Käthe Kollwitz, vgl. Richard Cornell: Revolutionary Vanguard, S. 65.

[29] Seine damalige Rede ist veröffentlicht als Willi Münzenberg: Unser Programm. Rede über das Programm der Kommunistischen Jugendinternationale, gehalten auf dem Gründungskongreß in Berlin, Internationaler Jugendverlag, Berlin 1920.

[30] Willi Münzenberg: Die dritte Front, S. 329ff.

[31] Ebd., S. 380.

[32] Vgl. demgegenüber Richard Cornell: Revolutionary Vanguard, besonders die Kapitel: Conflict over the role of the youth movement sowie Decisions in Moscow.

[33] Vgl. Kasper Braskén: The International Workers‘ Relief, Communism and Transnational Solidarity. Willi Muenzenberg in Weimar Germany, Palgrave Macmillan, Basingstoke 2015. Vgl. auch die Beiträge in Bernhard H. Bayerlein, Kasper Braskén und Uwe Sonnenberg (Hg.): Globale Räume für radikale transnationale Solidarität. Beiträge zum Ersten Internationalen Willi-Münzenberg-Kongress 2015 in Berlin, Online-Ressource. (i.E.)

[34] Willi Münzenberg: Die dritte Front, S. 231. Verärgert aber dürfte Münzenberg auch über Lenin selbst gewesen sein, der nur fünf Jahre vor der organisatorischen Eingliederung der KJI in der Zeitschrift Die Jugend-Internationale schrieb: „Es kommt oft vor, dass Vertreter der Generation der Erwachsenen und Alten es nicht verstehen, in richtiger Weise an die Jugend heranzutreten, die sich zwangsläufig auf anderen Wegen dem Sozialismus nähert, nicht auf dem Wege, nicht in der Form, nicht in der Situation, wie ihre Väter. Das ist einer der Gründe, warum wir unbedingt für die organisatorische Selbständigkeit des Jugendverbandes eintreten, nicht nur deshalb, weil die Opportunisten diese Selbständigkeit fürchten, sondern auch dem Wesen der Sache nach.“ Zit. nach ebd., S. 203.

[35] Vgl. zum Beispiel die Darstellung auf S. 310.