Von der Februarrevolution zum Oktoberumsturz. Die russische Linke im Rückblick
Dr. Wladislaw Hedeler
Publikationen, Ringvorlesungen, Tagungen, Inszenierungen und Ausstellungen sind sowohl Ausdruck des Interesses an der Russischen Revolution als auch Beleg für die Berechtigung unterschiedlicher Erinnerung an die Ereignisse, die vor 100 Jahren die Welt erschütterten. Die Historiker, so ein Resümee der Tagungen in der Russischen Föderation, sind mit der Auswertung der von Archiven präsentierten Dokumente im Rückstand. Russische Historiker sprechen von der Großen russländischen Revolution, die im Februar 1917 begann und bis zum Ende des Bürgerkrieges 1922 währte und weisen eine ausschließlich auf das Scheitern der Revolution fixierte Interpretation zurück.
Mit ihrer Frage nach den Akteuren und deren Motiven geraten neben Vertretern des bolschewistischen Flügels der russischen Sozialdemokratie auch linke und rechte Menschewiki, linke und rechte Sozialisten-Revolutionäre, Anarchisten, Monarchisten und Exilanten in den Blick. Es ist symptomatisch, dass letztere das Feuilleton in den überregionalen Printmedien der BRD beherrschten, während die in Russland agierenden nichtbolschewistischen linken Parteien so gut wie keine Beachtung fanden. Eine Ausnahme stellen die vom Karl-Dietz-Verlag besorgten Publikationen dar, die die hierzulande kaum bekannten Debatten unter deutschen und russischen Linken dokumentieren.
Dabei weisen diese Parallelen zur Überarbeitung der Programmatik auf, die zu Zeiten der SED/PDS begann, in der Partei "Die Linke" fortgesetzt wurde und in die Distanzierung von der "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" mündete. Im Ergebnis der von 1989 bis 2011 geführten Debatte ist der Hinweis auf die "welthistorische Bedeutung der Oktoberrevolution" aus dem Programm gestrichen und der von Lenin begründeten Weltanschauungspartei "neuen Typs" eine Absage erteilt worden.
Michael Schumann hatte 1989, in seiner Rede über den "Bruch mit dem Stalinismus als System" den Sieg der "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" noch als eine Tatsache von historischer Bedeutung, die vor der Geschichte Bestand hat, bezeichnet.[1] Im 1993 angenommenen Programm der PDS heißt es, dass: "Der mit der Oktoberrevolution 1917 begonnene Versuch, die kapitalistische Produktionsweise, Ausbeutung und Unterdrückung zu überwinden, in Europa gescheitert"[2] ist. Im 2003 angenommen Parteiprogramm ist von der Oktoberrevolution nicht mehr die Rede. "Ausgehend vom solidarischen und egalitären Anspruch der sozialdemokratischen und kommunistischen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, anknüpfend an die emanzipatorischen und libertären Traditionen früherer sozialistischer Bewegungen, streben wir nach einer grundlegenden Erneuerung sozialistischer Politik."[3]
Diese Orientierung auf eine breite, bis ins linkssozialistische Lager reichende Basis korrespondiert genau genommen mit Rosa Luxemburgs Hugo Eberlein vor dessen Abreise nach Moskau zum Gründungskongress der Komintern im März 1919 mit auf den Weg gegeben Empfehlungen. Als der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Tschitscherin Lenin darauf hinwies, dass die im Einladungsschreiben enthaltene ausschließliche Orientierung auf die Sowjetmacht nicht der Einigung der internationalen Linken diene, beauftragte Lenin einen anderen Genossen mit der Ausarbeitung des Gründungsaufrufs.
Der Historiker Manfred Kossok hat im November 1991 die daraus folgende Isolation der russischen Revolution charakterisiert: "Die sozialistische Revolution konnte nicht ins Zentrum des bürgerlichen Kosmos vorstoßen, wie es einst der bürgerlichen Umwälzung gelang. In diesem Sinne blieb die sozialistische Revolution (auch wenn sie als europäisches Ereignis, "als Katalysator aller damit verbundenen Probleme"[4] wahrgenommen wurde) ein peripheres Phänomen."[5]
Was Kossok 1991 umtrieb, war vor allem die Frage, ob mit der Feststellung des von seinem Zunftkollegen Helmut Bock beschriebenen jämmerlichen unheroischen Scheiterns[6] auch jene auf die Befreiung des Menschen gerichtete Idee und Bewegung widerrufen ist. "Erstens können die unmittelbaren Revolutionsresultate von 1917 bis 1921 den zweifelhaften Titel der ‚Großen Sozialistischen Oktoberrevolution‘ keinesfalls rechtfertigen. Das Verhältnis zwischen der ideologischen Begriffsbildung und der weit komplizierteren Realität der Geschichte müsste im Traditionsverständnis heutiger Sozialisten und Kommunisten ernstlich geprüft und präzisiert werden. Zweitens aber sollte die historische Erfahrung unvergessen bleiben, dass ein Weltkrieg kapitalistischer Staaten die Krise Russlands und damit die Revolution bewirkte."[7] Das Ende der Sowjetunion veränderte auch ihr Bild vom Anfang.
Wenden wir uns dem Anfang zu.
Lenin gehörte zu den wenigen Sozialisten, die mit einem Aktionsplan in der Tasche heimkehrten, diesen konsequent verfolgten und umsetzten. "Die republikanische Idee und die sozialistische Idee sind nicht identisch, aber sie können zu einem gemeinsamen Weg führen, vorausgesetzt, man gibt dem Weg den Vorzug vor dem Ziel. Lenin gab dem Ziel den Vorzug. Und weiter: "Selbständigkeit und gesonderte Existenz unserer Partei, keinerlei Annäherung an andere Parteien - das ist für mich ultimativ. Ohne dies kann man dem Proletariat nicht helfen, über die demokratische Umwälzung zur Kommune zu gelangen, und anderen Zielen würde ich nicht dienen", umriss Lenin im März 1917 seinen Plan.
Seit der Rückkehr aus dem Schweizer Exil war er mit dem auch von seinen Genossen vertretenen Einwand konfrontiert, Russland sei für die sozialistische Umwälzung nicht reif. So argumentierten Theoretiker aller sich auf Marx berufenden sozialistischen nichtbolschewistischen Parteien, darunter auch jene Sozialisten, die 1897 gemeinsam mit Lenin den Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse ins Leben gerufen hatten. 20 Jahre darauf unterschied sich die ablehnende Reaktion des Vaterlandsverteidigers Plechanows auf Lenins "Aprilthesen" kaum von den Appellen des Internationalisten Julius Martow, die "revolutionäre Demokratie" zu stärken und eine breite Koalition einzugehen.
Für die in der II. Internationale organisierten Sozialisten war eine Beteiligung an bürgerlichen Regierungen ausgeschlossen. Während die Linken parteiübergreifend betonten, dass eine Unterstützung der Regierung nur dann in Frage käme, wenn letztere im Sinne der Verwirklichung demokratischer Reformen wirke, forderten die Vaterlandsverteidiger immer nachdrücklicher die Bildung einer Koalitionsregierung unter Beteiligung der Sozialisten.
Mit der Aufwertung der Fraktion der Bolschewiki zum Alleinerben der SDAPR ging eine gezielte und massive Unterdrückung der von der Leninschen abweichenden Rezeptionslinien des Marxismus einher. Im März 1923, im Zusammenhang mit der Vorbereitung des 25. Jahrestages des 1. Parteitages der SDAPR wurde die politische Polizei GPU angewiesen, parteifeindliche Kundgebungen zu unterbinden.
Parallel dazu erfolgte die Disziplinierung von Parteimitgliedern, die vor und während der Revolution 1917 den linken bzw. rechten Bolschewiki oder der sogenannten Zwischengruppe, die den linken Menshewiki nahestand, angehört hatten. Nichtbolschewistische Parteien wurden verboten, ihre Funktionsträger verfolgt. In der extremen Zuspitzung der Losungen durch Lenin, notiert Michael Brie, "liegt seine Stärke, aber auch seine Beschränkung. […] Nicht der offene politische Raum von Alternativen, sondern die gewaltsame Entscheidung zwischen absoluten Gegensätzen des Entweder-oder steht im Zentrum. Und auch Lenins Nein zu den 'Sozialchauvinisten und Opportunisten' ist absolut. Es lässt keinen Raum für 'Schwanken' oder 'Abweichung' gegenüber der als richtig angenommenen Position. Sein Nein kennt kein relativierendes Aber."[8] Aus dem Butyrka-Gefängnis schrieben inhaftierte Sozialisten-Revolutionäre am 7. März 1919 an die Leitung der Komintern und wiesen auf die Fehler in Lenins Konzept für die innere Gestaltung der neuen Ordnung hin. Nicht Diktatur einer Partei, sondern eine Diktatur der Massen sei das anzustrebende Ziel.
Demokratie nach der Revolution war für Lenin immer die neue Form der sozialistischen Demokratie, die auf dem Weg der revolutionären Diktatur entsteht, wobei er sich ausdrücklich auf Engels berief.[9] Der Staat war entweder das Instrument der Unterdrückung, der Diktatur herrschender Klassen[10], oder der revolutionär-demokratischen bzw. der proletarischen Diktatur. Dabei knüpfte er in "Staat und Revolution" an die Schriften von Marx und Engels zur Revolution von 1848 und den folgenden Klassenkämpfen, an Marx' Beurteilung der geschichtlichen Bedeutung der Pariser Kommune und an die von Marx in der "Kritik des Gothaer Programms" und Engels im "Anti-Dühring" entwickelten Vorstellungen vom Absterben des Staates an. Marxist war für ihn nur, wer die "Lehre" von Marx bis zur Theorie des Klassenkampfes und zum Konzept der Diktatur des Proletariats vorbehaltlos anerkannte: "Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus muss natürlich eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit der politischen Formen hervorbringen, aber das Wesentliche wird dabei unbedingt das eine sein: die Diktatur des Proletariats."[11] Diese Meinung teilten die meisten der in der III. Internationale organisierten, vom "linken Radikalismus" infizierten Kommunisten. Trotzki wandte sich bereits am 5. August 1919, die Niederlage der ungarischen Räterepublik und die Misserfolge in der Ukraine vor Augen, mit einem Brief an das ZK der KPR(B), in dem er die "Vorbereitung von Elementen ‚asiatischer‘ Orientierung" forderte. Der Weg nach Indien betonte er, ist kürzer, als der nach Sowjetungarn. Der Weg nach London und Paris führt über Afghanistan.[12] Doch der Erfolg an der Peripherie erwies sich zunehmend als wirtschaftliche Belastung für die sozialistischen Länder. In der Herausbildung des "sozialistischen Weltsystems" liegt ein Grund für das Scheitern der sozialistischen Alternative.[13]
Anmerkungen
[1] Michael Schumann: Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System. "Im Oktober 1917 trat in Rußland das Volk, geführt von der Bolschewistischen Partei, unter extrem schweren Bedingungen an, den Sozialismus zu verwirklichen. Der Sozialismus trat in einem Land in die Weltgeschichte ein, in dem die materiellen und allgemein kulturellen Voraussetzungen am schwächsten ausgebildet waren. Die Große Sozialistische Oktoberrevolution wurde durchgeführt und siegte im Zeichen des Völkerfriedens, der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und Menschenwürde. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte sollten Freiheit und Demokratie auf eine reale ökonomische und politische Basis gestellt werden. In den zwanziger und dreißiger Jahren vollzogen sich in der ökonomisch rückständigen, durch Weltkrieg und Bürgerkrieg verwüsteten Sowjetunion grundlegende Veränderungen, wie die Industrialisierung, die Kulturrevolution, die Konsolidierung ihrer internationalen Position. Das waren Tatsachen von historischer Bedeutung, die vor der Geschichte Bestand haben."
[2] Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus (Beschlossen von der 1. Tagung des 3. Parteitages der PDS, 29. bis 31. Januar 1993 in Berlin.)
[3] Programm der Linkspartei.PDS (Beschlossen von der 2. Tagung des 8. Parteitages der PDS am 26. Oktober 2003 in Chemnitz.) "Wir geben uns dieses Programm in der Tradition der Kämpfe gegen kapitalistische Ausbeutung, ökologische Zerstörung, politische Unterdrückung und verbrecherische Kriege. Wir tun dies aber auch in rückhaltloser Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die im Namen des Sozialismus und Kommunismus begangen wurden, und in Ablehnung jedes Versuchs, mit Mitteln der Diktatur Fortschritt zu erreichen. Uns eint der unumkehrbare Bruch mit der Missachtung von Demokratie und politischen Freiheitsrechten, wie sie in und von nicht wenigen linken Parteien, darunter der SED, praktiziert worden ist. Ausgehend vom solidarischen und egalitären Anspruch der sozialdemokratischen und kommunistischen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, anknüpfend an die emanzipatorischen und libertären Traditionen früherer sozialistischer Bewegungen, streben wir nach einer grundlegenden Erneuerung sozialistischer Politik. In diesem Sinne suchen wir das Gespräch mit unterschiedlichen demokratischen Kräften in der Gesellschaft bei der Erarbeitung von Alternativen. Wir greifen aktuelle und zukunftsorientierte Vorstellungen gewerkschaftlicher, kirchlicher, intellektueller, ökologischer, feministischer und anderer moderner Kapitalismuskritik auf. Wir sagen mit den globalen kapitalismus- und herrschaftskritischen Bewegungen: Die Welt ist keine Ware. Eine andere Welt ist möglich."
[4] Wolfgang Küttler: W. I. Lenin und die Große Französische Revolution. Die Erfahrungen von 1789 aus der Sicht des revolutionären Kampfes der russischen Arbeiterbewegung. In: Große Französische Revolution und revolutionäre Arbeiterbewegung. Geschichtsbewußtsein, Gesellschaftstheorie und revolutionärer Kampf. Hrsg. von Walter Schmidt, Wolfgang Küttler und Gustav Seeber. Berlin: Akademie-Verlag 1989, S. 120.
[5] Manfred Kossok: 1917 - eine periphere Revolution?, in Utopie kreativ. Beilage 1 (November 1991), S. 14. Nachdruck des Artikels in: Manfred Kossok: Sozialismus an der Peripherie. Späte Schriften. Hg. von Jörn Schütrumpf. Berlin: Karl Dietz Verlag 2016, S. 39.
[6] Helmut Bock: Die russische Revolution. Kriegskind des 20. Jahrhunderts. In: Derselbe, Wir haben erst den Anfang gesehen. Selbstdokumentation eines DDR-Historikers 1983 bis 2000. Rls-Texte, Bd. 8. Berlin 2002, S. 338ff.
[7] Helmut Bock: Die russische Revolution. A.a.O., S. 360.
[8] Michael Brie: Was tun in Zeiten der Ohnmacht? Lenins Jahre in der Schweiz, September 1914 bis April 1917 - eine Skizze. In: Wladislaw Hedeler (Hrsg.) Die russische Linke zwischen März und November 1917. Berlin: Karl Dietz Verlag 2017, S. 28.
[9] [LW 25, S. 468]
[10] [LW 25, S. 397ff.]
[11] [LW 25, S. 425]
[12] Komintern i ideja mirovoj revoljucii. A.a.O., S. 146.
[13] Wolfgang Küttler: Die russische Revolution und das Verhältnis von bürgerlicher und sozialistischer Umwälzung. In: Oktoberrevolution in Rußland - ein Ausbruch aus der Welt des Kapitals? Helle Panke e.V., Pankower Vorträge Heft 8, S. 16.